146 EIN SALONDIPLOMAT
für die vorsichtige und den Traditionen, selbst den kleinlichen Traditionen
und Eitelkeiten deutscher Höfe Rechnung tragende Politik des Fürsten
Bismarck, daß er eine diplomatische Aktion in St. Petersburg unternahm,
um die Aufrechterhaltung des russischen Gesandtenpostens in München
durchzusetzen. Diese Aktion wurde insofern schlecht belohnt, als die rus-
sische Mission in München sich 1914 bei Ausbruch des Krieges durch ihre
deutschfeindlichen Umtriebe übel bemerkbar machte. Sollte dies dem
Fürsten Bismarck im Elysium vorgehalten worden sein, so wird er aller-
dings vermutlich geantwortet haben, daß es mit ihm und unter ihm über-
haupt nicht zum Weltkrieg gekommen wäre.
Graf Osten-Sacken war, als ich die Geschäfte des Auswärtigen Amts in
Berlin übernahm, schon nahe der Grenze der siebziger Jahre. Er hatte
noch lebhafte Erinnerungen an die Regierung des Kaisers Nikolaus I.,
dessen Günstling sein Vater gewesen war, ein ausgezeichneter General der
Kavallerie, der sich in den Kriegen gegen die Türkei, im polnischen Feld-
zug und auch noch im Krimkrieg hervorgetan hatte. Sein Großonkel,
Fabian Wilhelmowitsch von Osten-Sacken, war Fürst und russischer Feld-
marschall geworden, hatte sich in allen türkischen, polnischen und fran-
zösischen Kriegen ausgezeichnet und 1813 an der Katzbach den rechten
Flügel des Blücherschen Heeres befehligt. Von diesem Kriegshelden hatte
der russische Botschafter in Berlin nicht viel. Er war ganz Salondiplomat.
Der Unterschied zwischen unserer Auffassungsweise und der altrussischen
Mentalität wurde mir nie klarer, als wie mir der Botschafter Osten-Sacken
gelegentlich aus seiner Jugend nachstehenden kleinen Zug erzählte. Er
habe einen älteren Bruder gehabt, der ein zarter Knabe war. Kaiser
Nikolaus I., der den Kleinen zufällig bei dessen Vater bemerkt hatte, habe
letzterem gesagt, er bestimme den Jungen für das Kadettenkorps oder die
Pagerie. Der Vater bat, davon abzusehen, da sein Söhnchen kränklich
wäre, der Autokrat bestand aber auf seinem Willen. „Natürlich“, fuhr
Graf Osten-Sacken fort, „starb mein Bruder nach wenigen Wochen. Und
nun denken Sie sich, wie herzensgut, wie rührend der Kaiser Nikolaus war!
Um meinen Vater zu trösten und auch um ihn für seinen Gehorsam zu
belohnen, folgte er zu Fuß dem Sarg meines Brüderchens.“