Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Erster Band. Vom Staatsseketariat bis zur Marokko-Krise. (1)

DIE UNGARISCHEN GRAFEN 161 
Dreck, sei es Gold, das Fahrzeug zum Kentern bringen könnte. Die Parla- 
ments- und Adelsregierung, die in Ungarn das Heft in der Hand hielt, 
jagte dem Phantom der völligen Assimilierung oder Ausrottung der nicht- 
magyarischen Nationalitäten im Reich der Stefanskrone mit der Verblen- 
dung nach, von der keiner der ungarischen Staatsmänner, die nach Deäk 
und Andrässy von Einfluß waren, freigesprochen werden kann. Der größte 
unter ihnen war Graf Stefan Tisza, der, wenn er ebensoviel Maß besessen 
hätte wie Kraft, so viel Überlegung und Vorsicht wie glühende Vaterlands- 
liebe, zu den ganz großen Staatsmännern gerechnet worden wäre. Aber auch 
er opferte dem Gedanken der Durchführung der absoluten Vorherrschaft 
des magyarischen Stammes jede andere Rücksicht und Erwägung. Tisza 
sollte dadurch seinem Lande schweren Schaden zufügen. Aber als ein Mann, 
der allezeit sich selbst treu blieb, ist er eine große geschichtliche Figur. Er 
war der einzige der maßgebenden ungarischen und österreichischen Staats- 
männer, der gegen die unsinnige Politik war, die im Sommer 1914 mit dem 
Ultimatum eingeleitet wurde. Er stand einem ebenso wahnwitzigen 
Schritt, der Proklamierung der Unabhängigkeit Polens durch die Zentral- 
mächte, kühl gegenüber. Er war gegen übertriebene Annexionen, schon 
weil sie ihm für das Übergewicht der Magyaren im Gesamtstaat bedenklich 
erschienen. Mit eiserner Hand hielt er die Ordnung aufrecht. Als Kaiser 
Karl, dem Graf Tisza schon als Nichtkatholik unsympathisch war, ihn 
bald nach seinem Regierungsantritt fortschickte, nachdem er schon einige 
Zeit vorher geäußert hatte, der „kalvinische Papst‘ sei nun zum längsten 
im Amt gewesen, schallte der Doppelmonarchie und dem Hause Habsburg 
die Totenglocke, es stand die Uhr, der Zeiger fiel, es war die Zeit für sie 
vorbei. Stefan Tisza überlebte nicht den Untergang seines Volkes. Er fiel 
unter Mörderband, furchtlos, wie er gelebt hatte. 
Graf Gyula Andrässy Sohn und Graf Albert Apponyi waren in der 
Behandlung der Nationalitäten ebenso unverständig wie Tisza, besaßen 
aber nicht dessen Charakterstärke. Aber Apponyi war wohl die größte 
oratorische Begabung, die mir vorgekommen ist. Er sprach glänzend und 
in jeder Sprache gleich gut: auf Ungarisch, auf Deutsch, auf Englisch, auf 
Französisch, wahrscheinlich auch auf Italienisch und auf Lateinisch. Er 
sprach über jedes Thema, über Politik und über Musik, über Unterrichts- 
wesen und über Landwirtschaft. Er hatte aber das Unglück gehabt, viel- 
leicht gerade durch seine Vielseitigkeit, dem Kaiser Franz Josef zu miß- 
fallen. Dieser hatte ihm sein Mißfallen zu deutlich zu verstehen gegeben, 
und der empfindliche Apponyi war seitdem ein sehr gehässiger Gegner 
nicht nur des alten Kaisers, sondern auch des österreichisch-ungarischen 
Ausgleichs von 1867 geworden. Auf der anderen Seite versäumte man in 
Wien, den Grafen Albert Apponyi, der aus einem streng konservativen, 
11 Bülow I
	        
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