182 LEPORELLO-LISTE DER REICHSKANZLERKANDIDATEN
solcher schweren Trauer fehlen auch den besten Freunden die Worte; ich
wollte Ihnen aber doch sagen, daß ich Ihnen im Geiste warm die Hand
drücke und mchr wie mancher andere zu ermessen weiß, was wir mit
diesem Tode verloren haben.
In alter Treue stets Ihr
H. Bismarck
Daß der Einfluß meines Bruders auf den Prinzen Wilhelm unbedingt
günstig gewesen ist, wage ich bei aller Liebe für den Mentor und aller An-
erkennung für dessen große Eigenschaften nicht zu behaupten. Er hat in
seinen Zögling manche seiner Eigenschaften und Schroffheiten eingepflanzt.
Seine Stetigkeit, seinen Ernst und seine absolute Furchtlosigkeit hat er
nicht auf ihn übertragen können. Kaiser Wilhelm II. hatte Großes mit
meinem Bruder Adolf im Sinn gehabt. Er dachte an ihn als künftigen Chef
des Militärkabinetts, auch als Chef des Generalstabs oder als Kriegsminister
zumal mein Bruder eine nicht gewöhnliche Redegabe besaß. Er soll auch
für gewisse Fälle an ihn als möglichen Reichskanzler gedacht haben.
Was sind Hoffnungen, was sind Entwürfe,
Die der Mensch, der flüchtige Sohn der Stunde,
Aufbaut auf dem betrüglichen Grunde?
Mein Bruder Adolf hätte wohl nicht allen Aufgaben des höchsten Amts
im Deutschen Reich genügt, aber in schweren Stunden hätte er seinen
Mann gestanden. Lang ist die Liste, länger noch als die berühmte Leporello-
Liste der von Don Juan verehrten Damen, aller derjenigen, an die Wil-
helm II. im Laufe seiner Regierung für den Reichskanzlerposten gedacht
hat. Darunter befanden sich durchaus ernste und mögliche Kandidaten
wie Graf Posadowsky, Freiherr von Marschall, Freiherr von Rheinbaben,
der spätere.Chef des Generalstabs Hellmuth von Moltke, Minister von
Miquel, Freiherr von Schorlemer, Graf Johann Bernstorfi. Es befanden
sich darunter aber auch seltsame Ausgeburten einer allzu entzündlichen
Phantasie. Bei der Hochzeit des Fürsten Hugo Radolin mit der Gräfin
Johanna Oppersdorff, die im Beisein des Kaisers in Ober-Glogau in Schle-
sien stattfand, hielt der Bruder der Braut, Graf Hans Oppersdorff, der
später von einer Partei zur anderen und schließlich zu den Polen überlief,
eine mehr durch Begeisterung als durch sachlichen Inhalt hervorragende
Rede auf den Kaiser. Als er seinen Toast beendet hatte, äußerte Wilhelm II.
laut: „‚Der soll mal mein Reichskanzler werden.“ Das war 1892. Als mich
König Georg von Griechenland 1911 in Rom besuchte, erzählte er mir,
Kaiser Wilhelm habe ihm bei einer Begegnung in Korfu, im Schloß
Achilleion, auf den damaligen Gesandten in Athen, den Freiherrn von