AUS DEN TAGEN VOR BISMARCKS STURZ 183
Wangenheim, deutend, gesagt: „Da steht ein zukünftiger deutscher Reichs-
kanzler.‘“ Wangenheim war nicht unbegabt, aber unstet, unausgeglichen, un-
vorsichtig, ein Durchgänger. Er hätte viel Unheil anrichten können. Das gilt
noch mehr von dem Botschafter in Rom, Graf Monts, den Kaiser Wilhelm
schon 1903 mit der Begründung als Reichskanzler in spe ankündigte, daß die
Botschafter in Rom sich gut zum Reichskanzler eigneten, wie dies das
Beispiel von Bülow zeige. Wilhelm II. äußerte gern, auch in größerem
Kreise, ein Fürst müsse für jeden Minister und besonders für den leitenden
Minister zwei oder drei Nachfolger in petto haben, damit niemand sich für
unentbehrlich halte. In gewissen Augenblicken soll Wilhelm II. sogar an
den Fürsten Lichnowsky als Kanzler gedacht haben, dessen Nerven dieser
Aufgabe nicht vierzehn Tage standgehalten hätten, von seiner geschäft-
lichen und rednerischen Insuffizienz zu schweigen. Es wäre ungerecht,
nicht hinzuzufügen, daß es sich bei Wilhelm II. schließlich doch nur um
Velleitäten handelte, um plötzliche Einfälle, die wie Seifenblasen auf-
stiegen und platzten, sobald verständige Leute dem Monarchen zuredeten.
Seitdem haben wir Minister und sogar Reichskanzler erlebt, deren Wahl
durch Parteiintrigen, durch rein fraktionelle oder pezsönliche Rücksichten
bestimmt war, die den Parteien und dem Parlament niemand ausredete.
„Gevatter Schneider und Handschuhmacher“, die ihrer schweren Aufgabe
noch weniger gewachsen waren als die unfähigsten unter den Kandidaten
Wilbelms II., die schließlich nur in seiner ewig regen Phantasie ein kurzes
Scheindasein führten.
Mein Bruder Adolf war übrigens ohne jeden ungesunden Ehrgeiz. Ich
glaube, daß ihm nie etwas anderes vorgeschwebt hat als eine rein mili-
tärische Laufbahn, wenn möglich in der Provinz, denn er liebte nicht das
Hofleben und wußte, daß er am Hofe oft mit dem Kaiser karambolieren
würde. Das war schon bei dem Sturze des Fürsten Bismarck der Fall ge-
wesen. Als die Entlassung des Fürsten bei Seiner Majestät bereits beschlos-
sen war, trat, wie mir hinterher der spätere Fürst Karl Wedel, 1890 General
a la suite des Kaisers, erzählte, mein Bruder in das Adjutantenzimmer und
ging direkt auf die in das Arbeitszimmer des Kaisers führende Tür los. Als
Wedel ihn darauf aufmerksam machte, daß der Kaiser, der strenge Order
gegeben hätte, ihn nicht zu stören, für niemand zu sprechen sei, entgegnete
mein Bruder: „Das ist mir einerlei! Er darf den Fürsten Bismarck nicht
fortschicken.‘‘ Mein Bruder klopfte dreimal fest an die kaiserliche Tür,
öffnete sie dann selbst und trat in das Arbeitszimmer Seiner Majestät.
Nach einer halben Stunde kam er mit der ihm eigenen Ruhe, aber mit dem
Ausdruck tiefer Betrübnis wieder zurück und äußerte zu Wedel: „Es ist
nichts zu machen. Das ist dasgrößte Unglück, das uns seit Jena betroffen
hat.“ Wie großzügig Kaiser Wilhelm II. sein konnte, wenn er sich nicht