Bülows
Reichstogs-
Debit
192 DIE EIDESHELFER
Schöpfung Kaiser Wilhelms des Großen zu erhalten. Die Reichstags-
abgeordneten hätten „bewegten Herzens und feuchten Auges“ seinen Eid
entgegengenommen und wären dadurch seine „Eideshelfer‘‘“ geworden.
Im Angesicht Gottes, des Allmächtigen, und im Andenken an den großen
Kaiser bitte er sie, ihm zu helfen, seinen Eid zu halten, damit er die Ehre
des Reichs wahren könne, für deren Erhaltung er nicht gezögert habe
seinen einzigen Bruder einzusetzen. Wie oft bei improvisierten kaiserlichen
Reden sahen sich die nun einmal nüchtern angelegten, meist durchaus
spießbürgerlichen Volksvertreter verwundert an, ohne recht zu verstehen,
was mit diesem ungewohnten melodramatischen Zwischenspiel im Weißen
Saal vor dem Kaiserthron eigentlich bezweckt würde.
Am 6. Dezember begann die Debatte, in der Fürst Hohenlohe mit kaum
verständlicher Stimme seine Rede verlas, die manche feine und richtige
Wendungen enthielt, die aber nicht gehört wurden. Tirpitz und der Staats-
sekretär des Reichsschatzamtes von Thielmann waren fast ebenso un-
verständlich, beide matt. Der Sozialist Schönlank griff mit persönlichen
Spitzen gegen kaiserliche Tafelreden, Weltpolitik und die politische Ohn-
macht des Kanzlers die Vorlage an. Ich hatte die Empfindung, daß, wenn
der parlamentarische Stapellauf der Flottenvorlage nicht mißglücken solle,
andere Töne vom Regierungstisch angeschlagen werden müßten. Ich sah,
daß von den anwesenden Ministern und Staatssekretären hierzu keiner Lust
hatte, daß eine solche Replik von dem greisen Kanzler erst recht nicht ver-
langt werden könne. Andererseits stand ich voreiner mir völligungewohnten
Aufgabe. Ich hatte in Paris und Rom, in Bukarest und Athen als Zuschauer
parlamentarischen Verhandlungen beigewohnt, aber nur selten und ohne
innere Anteilnahme. Im Deutschen Reichstag war ich nur einmal in meinem
Leben gewesen, dreißig Jahre früher, wo ich von einer dem Publikum offen-
stehenden Tribüne aus Bismarck über die luxemburgische Frage sprechen
hörte. Vor Beginn der Etatsdebatte von 1897 hatten mir meine Kollegen
und Mitarbeiter für den Fall, daß ich sprechen müßte, allerlei gute Rat-
schläge gegeben. Die einen hatten mir geraten, recht laut zu reden, sonst
höre niemand zu. Andere wieder meinten, laut sprechen verstimme und
reize die Abgeordneten, denen eine leise und bescheidene Stimme besser
gefalle. Ich hatte mich in keiner Weise auf meine Rede vorbereitet, da mir
mit Bestimmtheit gesagt worden war, ich würde keinesfalls am ersten,
frühestens am zweiten, voraussichtlich am dritten oder vierten Tage der
Debatte zu Worte kommen. Namentlich von linksgerichteten Blättern war
vor meinem ersten Auftreten im Reichstag mit mehr Behagen als Witz das
Publikum darauf vorbereitet worden, daß ich parlamentarisch ein völliger
Neuling und schon deshalb oratorisch meiner neuen Stellung nicht ge-
wachsen wäre. Die „Lustigen Blätter“ hatten nach meinem Eintreffen in