EUGEN RICHTER 201
Ein anderes Mitglied der Nationalliberalen Partei, Ernst Bassermann,
besaß nicht die Tiefe von Bennigsen, auch nicht den Zauber von Miquel,
aber er wirkte durch seine edle Persönlichkeit, deren Ausdruck seine Reden
waren. Er konnte irren und hat wie jeder hier und da geirrt. Aber, was so
viele vorgeben, ohne danach zu handeln: für Ernst Bassermann stand
wirklich das Vaterland über der Partei, geschweige über persönlicher
Selbstsucht. Eugen Richter war als Redner für mich eine Enttäuschung.
So sehr ich seine Arbeitskraft, seine Beherrschung aller Etatsfragen, seinen
selbstlosen Charakter schätzte, auf der Rednertribüne fand ich ihn mehr
als mittelmäßig. Er sprach mit einem langen Zettel in der Hand, auf den
er nicht nur Stichworte, sondern auch Witze notiert hatte, die er machen
wollte. Es war ihm schon vorher im Gesicht anzusehen, wenn ein Witz
kommen sollte. Derselbe Witz wiederholte sich zu häufig. So pflegte er bei
jeder Etatsdebatte mit einem boshaften Blick auf die Ministerbank den
Vers aus dem 103. Psalm zu zitieren, wo der Mensch mit der Blume auf dem
Felde verglichen wird, der Wind gehet darüber, so ist sie nimmer da, und
ihre Stätte kennet sie nicht mehr. Eugen Richter erinnerte unwillkürlich
an jene Professoren, deren Zuhörer schon im voraus den nahenden Witz
ahnen, der sorgfältig im Manuskript des Redners verzeichnet ist, damit der
Hörer nachher um so besser sieht, daß der Professor nichts sagt, als was im
Buche steht. Als Redner war dem Abgeordneten Richter ein Professor,
Freiherr von Hertling, der spätere Reichskanzler, entschieden überlegen.
Er hatte sich schon in jungen Jahren als Privatdozent in Bonn habilitiert.
Große Kurzsichtigkeit zwang ihn, frei zu sprechen. Er redete nicht nur
ganz frei, sondern mit vollendeter Sicherheit, oft sehr fein, aber es fehlte
ihm die Wärme, er hatte nichts Begeisterndes, nichts Hinreißendes. Hier
lag die Stärke von Bebel, dessen Reden sich für die Hörer besser ausnahmen
als für den Leser und der mehr durch Temperament als durch tiefe oder gar
klare Gedanken wirkte. Bebel hielt im Grunde immer die gleiche Rede.
Als der beste Debatter in deutschen Parlamenten erschien mir der Ab-
geordnete von Heydebrand, der klar, inzisiv, schlagfertig sprach. Freilich
war er eine Bestätigung des soeben erwähnten Wortes von Bismarck, daß
gute Redner meist schlechte Politiker wären und daß mit Redegabe aus-
gerüstete Parteiführer nur um so schädlicher wirken. Wenn im Reichstag
gegen die Rechte ein scharfer Angriff erfolgte, so boten ihre Vertreter das
Bild eines Hühnerhofs, über dem ein Raubvogel seine Kreise zieht. Alles
sah sich an, aber niemand war bereit, sofort zu antworten. Dann erging ein
Hilferuf nach dem Abgeordnetenhaus, wo Herr von Heydebrand häufiger
weilte als im Reichstag. Der „Kleine“, wie er in seiner Partei genannt wurde,
erschien, ließ sich rasch über den vorausgegangenen Angriff orientieren,
warf einen selbstbewußten Blick auf seine Parteigenossen und antwortete