Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Erster Band. Vom Staatsseketariat bis zur Marokko-Krise. (1)

Freiherr von 
Mirbach 
244 MIRBACHS KLINGELBEUTEL 
anderen Wedels ‚„Stallwedel“ genannt, zeichnete sich wie Scholl durch un- 
gewöhnliche körperliche Größe aus und glich diesem auch durch unbe- 
dingte Treue und Zuverlässigkeit. Im Hinblick darauf, daß in Jerusalem die 
Einweihung der neu erbauten evangelischen Erlöserkirche stattfinden 
sollte, nahm auch Oberhofprediger Dr. Dryander an der Kaiserreise teil. 
Im Gefolge der Kaiserin befanden sich außer ihren Damen der Oberhof- 
meister Freiherr von Mirbach und der Kabinettsrat Bodo von dem Knese- 
beck. Herr von Mirbach entstammte einer alten rheinländischen Familie, 
die von der Eifel nach den baltischen Provinzen und von dort nach Ost- 
preußen gekommen war. Diesem ostpreußischen Zweige gehörte außer dem 
Oberhofmeister auch der bekannte Parlamentarier und Volkswirt Graf 
Julius von Mirbach-Sorquitten an. Andere Zweige der Familie waren nach 
Österreich und Bayern verschlagen worden. Endlich gab es noch eine am 
Rhein ansässige katholische Linie Mirbach-Harff, welcher der Legationsrat 
Graf Wilhelm von Mirbach-Harff entsprossen war, unter unseren jüngeren 
Diplomaten vielleicht der pflichttreuste und dabei befähigteste, der leider 
im Sommer 1918 als deutscher Vertreter bei der Moskauer Regierung von 
russischen Revolutionären schändlich ermordet wurde. Der Oberhofmeister 
Mirbach war ein kreuzbraver Mann, aber man hätte auf ihn das bekannte 
Wort von Bismarck über Adolph Stöcker anwenden können, von dem der 
große Kanzler meinte, er habe als Politiker den Fehler, daß er Geistlicher 
sei, und als Geistlicher, daß er Politik treibe. Der kirchliche Eifer des Oberhof- 
meisters ging für einen hohen Hofbeamten zu weit, und der Kirchenerbauer 
Mirbach hatte wieder darunter zu leiden, daß er am Hofe der Kaiserin die 
erste Stelle einnahm. Dies um so mehr, als Mirbach nicht den nötigen Takt 
besaß, um solche Gegensätze auszugleichen. Es fehlte ihm durchaus das 
„genie de la juxtaposition“, das Anatole France an den Italienern rühmt. 
Mirbach sah die Kirchennot in Berlin, und umihrabzuhelfen, warihmjedes 
Mittel recht. Mit dem Eifer eines Missionars ließ er bei allen ihm bekannten 
reichen oder auch nur wohlhabenden Personen den Klingelbeutel umgehen. 
Er versandte gedruckte Formulare, in denen nur der Name des Adressaten 
auszufüllen war und in denen es hieß, daß der Bau einer Kirche in 
diesem oder jenem Berliner Stadtviertel dringend notwendig wäre, daß auf 
die freundliche Beihilfe des Adressaten gerechnet würde, daß Ihre Majestät 
die Kaiserin sich lebhaft für den Bau gerade dieser Kirche interessiere und 
daß das Verzeichnis der gütigen Spender mit Angabe der von ihnen ge- 
spendeten Summe zur Kenntnis Ihrer Majestät gebracht werden würde. 
Alles das gedruckt! Wie jeder echte Apostel scheute der Oberhofmeister, 
um seinen frommen Zweck zu erreichen, auch nicht vor der Berührung mit 
ihm sonst nicht kongenialen Personen zurück. Er hatte den Vorsitzenden 
der sozialdemokratischen Fraktion, Paul Singer, einen Israeliten, aufgesucht
	        
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