Freiherr von
Mirbach
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anderen Wedels ‚„Stallwedel“ genannt, zeichnete sich wie Scholl durch un-
gewöhnliche körperliche Größe aus und glich diesem auch durch unbe-
dingte Treue und Zuverlässigkeit. Im Hinblick darauf, daß in Jerusalem die
Einweihung der neu erbauten evangelischen Erlöserkirche stattfinden
sollte, nahm auch Oberhofprediger Dr. Dryander an der Kaiserreise teil.
Im Gefolge der Kaiserin befanden sich außer ihren Damen der Oberhof-
meister Freiherr von Mirbach und der Kabinettsrat Bodo von dem Knese-
beck. Herr von Mirbach entstammte einer alten rheinländischen Familie,
die von der Eifel nach den baltischen Provinzen und von dort nach Ost-
preußen gekommen war. Diesem ostpreußischen Zweige gehörte außer dem
Oberhofmeister auch der bekannte Parlamentarier und Volkswirt Graf
Julius von Mirbach-Sorquitten an. Andere Zweige der Familie waren nach
Österreich und Bayern verschlagen worden. Endlich gab es noch eine am
Rhein ansässige katholische Linie Mirbach-Harff, welcher der Legationsrat
Graf Wilhelm von Mirbach-Harff entsprossen war, unter unseren jüngeren
Diplomaten vielleicht der pflichttreuste und dabei befähigteste, der leider
im Sommer 1918 als deutscher Vertreter bei der Moskauer Regierung von
russischen Revolutionären schändlich ermordet wurde. Der Oberhofmeister
Mirbach war ein kreuzbraver Mann, aber man hätte auf ihn das bekannte
Wort von Bismarck über Adolph Stöcker anwenden können, von dem der
große Kanzler meinte, er habe als Politiker den Fehler, daß er Geistlicher
sei, und als Geistlicher, daß er Politik treibe. Der kirchliche Eifer des Oberhof-
meisters ging für einen hohen Hofbeamten zu weit, und der Kirchenerbauer
Mirbach hatte wieder darunter zu leiden, daß er am Hofe der Kaiserin die
erste Stelle einnahm. Dies um so mehr, als Mirbach nicht den nötigen Takt
besaß, um solche Gegensätze auszugleichen. Es fehlte ihm durchaus das
„genie de la juxtaposition“, das Anatole France an den Italienern rühmt.
Mirbach sah die Kirchennot in Berlin, und umihrabzuhelfen, warihmjedes
Mittel recht. Mit dem Eifer eines Missionars ließ er bei allen ihm bekannten
reichen oder auch nur wohlhabenden Personen den Klingelbeutel umgehen.
Er versandte gedruckte Formulare, in denen nur der Name des Adressaten
auszufüllen war und in denen es hieß, daß der Bau einer Kirche in
diesem oder jenem Berliner Stadtviertel dringend notwendig wäre, daß auf
die freundliche Beihilfe des Adressaten gerechnet würde, daß Ihre Majestät
die Kaiserin sich lebhaft für den Bau gerade dieser Kirche interessiere und
daß das Verzeichnis der gütigen Spender mit Angabe der von ihnen ge-
spendeten Summe zur Kenntnis Ihrer Majestät gebracht werden würde.
Alles das gedruckt! Wie jeder echte Apostel scheute der Oberhofmeister,
um seinen frommen Zweck zu erreichen, auch nicht vor der Berührung mit
ihm sonst nicht kongenialen Personen zurück. Er hatte den Vorsitzenden
der sozialdemokratischen Fraktion, Paul Singer, einen Israeliten, aufgesucht