DIE BERGPREDIGT 247
Sprechweise, ihrer Unschuld und Harmlosigkeit wurde sie bisweilen be-
spöttelt, aber der Fond war edel und gut. Als die ersten Anzeichen des
gegen die Monarchie sich vorbereitenden Sturms im Herbst 1918 bemerkbar
wurden, begegnete ich Claire Gersdorff. Sie glich einem Vögelchen in dem
Augenblick, wo die ersten schweren Regentropfen des aufziehenden Ge-
witters fallen. Sie hatte, als im Herbst 1914, im kaiserlichen Sonderzuge,
aber in Abwesenheit der Majestäten, ein Herr des Gefolges die Befürch-
tung aussprach, daß Bethmann Hollweg, bei Lichte besehen, sich als un-
geschickt und einfältig erweisen könnte, arglos erwidert: „Desto besser!
Es heißt in der Bergpredigt: Selig sind, die da geistig arm sind, denn das
Himmelreich ist ihrer.‘ Gräfin Therese Brockdorff war aus anderem Holz,
ein starker Wille und eine energische Natur. Sie war eine Enkelin meiner
Großtante Gabriele von Bülow, der Tochter von Wilhelm von Humboldt,
deren feinsinnige Biographie, geschrieben von einem jungen Mädchen,
ihrer Großnichte Anna von Sydow, in weiten Kreisen Eingang gefunden
hat. Als der junge, sehr gut aussehende, aber sonst nicht besonders hervor-
ragende Hauptmann im 1. Garderegiment Leopold Freiherr von Lo&n
sich mit der Tochter des damaligen Staats- und Kabinettsministers,
Ministers der Auswärtigen Angelegenheiten Heinrich von Bülow, meines
Großonkels, vermäblte, ernannte ihn Friedrich Wilhelm IV. am Hochzeits-
tage zum Major und Flügeladjutanten. Es war noch die gute alte Zeit, von
der, wie ich schon einmal gelegentlich erwähnte, Talleyrand meinte, daß,
wer nicht vor der großen Französischen Revolution gelebt habe, nicht ahne,
wie süß das Leben sein könne. Leopold Lo&n kam in den sechziger Jahren
als Militärattach& nach St. Petersburg, wo er berühmt wurde durch einen
Bericht, in dem er eine Reihe von Bränden schilderte, die damals die russi-
sche Hauptstadt heimsuchten. Der Bericht schloß mit den Worten: „Der
Kanzler Fürst Gortschakow, dem ich zufällig begegnete, bemerkte mit
Bezug auf diese offenbar systematisch angelegten Brände: ‚Wir leben in
einer Schweinezeit.‘ Ich erwiderte: ‚Jawohl, Exzellenz, wir leben in einer
Schweinezeit.‘ gez. Freiherr von Loen, Major und Flügeladjutant.“
Nachdem General von Loen vom Hauptmann bis zum General jedem Front-
dienst entrückt gewesen war, bekam er, als älterer Mann, eine Infanterie-
Brigade in Frankfurt a.M. Man gab ihm einen besonders tüchtigen Ad-
jutanten bei. Vor der ersten größeren Übung, die der General zu leiten
hatte, bat sein Adjutant, immer recht nahe beieinander zu bleiben, er
werde seinem Chef jedes Kommando soufflieren, ihm auch sagen, ob er
rechts oder links reiten müsse. So werde alles gut gehen. Es ging auch alles
ganz gut, dank der Nachhilfe des Adjutanten. Als der General nach über-
standener Übung vom Exerzierplatz nach Frankfurt zurückritt, sagte er
mit wohlwollendem Ausdruck zu seinem Adjutanten: „Nun, die Sache ist