Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Erster Band. Vom Staatsseketariat bis zur Marokko-Krise. (1)

262 DIE FROMME KAISERIN 
Glaubwürdigkeit nachgesagt wurde, daß er sich als Ehemann manche 
Seitensprünge erlaubt habe. 
Bei aller Trefflichkeit ihres Wesens hat die Kaiserin Auguste Viktoria 
unsere Beziehungen zu Rußland wie namentlich zu England und bis zu 
einem gewissen Grade auch zu Italien durch ihr Ausländern gegenüber 
steifes und sprödes Wesen nicht erleichtert. Wenn ihr Gemahl in dieser 
Beziehung zu viel tat, war sie bisweilen geneigt, zu wenig zu tun. Die Kai- 
serin war eine durch und durch fromme Christin. Sie überwachte sorgsam 
den Religionsunterricht ihrer Kinder. Sie wollte nicht, daß in irgendeinem 
Punkt von der Auffassung strenger Gläubigkeit abgewichen würde, in der 
sie ihr Vater, Herzog Friedrich VIII. von Augustenburg, erzogen und der 
Oberhofprediger Dibelius in Dresden eingesegnet hatte. Die Kinder sollten 
glauben, daß der Prophet Jonas sich einige Tage im Bauche eines Wal- 
fisches aufgehalten hätte und daß auf destapferen Josuas Gebot die Sonne 
stillstand zu Gibeon und der Mond im Tal Ajalon. Die Kaiserin war nicht 
unduldsam, aber wenn Rationalisten ihr unsympathisch, Atheisten ab- 
scheulich erschienen, so blickte sie auf die katholische Kirche mit der 
Scheu, die manche an sich treffliche Protestanten vor dem „altbösen 
Feind‘ des Lutherliedes empfinden, dessen grausame Werkzeuge große 
Macht und viel List sind. Sie erzählte mir selbst einmal, daß der ausgezeich- 
nete Kultusminister Graf Robert von Zedlitz ihr mit Bezug hierauf, bei 
seinem Rücktritt, in seiner Abschiedsaudienz gesagt habe: „„Eure Majestät 
sind mir nicht tolerant genug.“ Ich habe mich oft bemüht, bei der Kaiserin 
Verständnis für die vielen, großen und schönen Seiten der katholischen 
Kirche und der katholischen Weltanschauung zu erwecken, aber ohne 
damit viel Erfolg zu haben. Die Kaiserin würde nie eine Ungerechtigkeit 
gegenüber Katholiken oder gar eine Verletzung der Rechte der katho- 
lischen Kirche gebilligt haben, dazu war sie zu pflichttreu und zu gütig. 
Aber sie konnte sich nicht entschließen, Katholiken als Oberhofmeister 
oder Hofdamen in ihre nähere Umgebung zu ziehen, wie ich ihr das wieder- 
holt riet. Sie konnte sich freilich mit einigem Recht darauf beziehen, daß 
am bayrischen Hofe die Hofdamen ausnahmslos katholisch waren, obwohl 
zwei Fünftel der bayrischen Bevölkerung evangelisch sind. 
Der Kaiser wußte, was er an seiner Gemahlin hatte. Er liebte sie, freilich 
in den Grenzen seiner naiven Selbstsucht. Er kannte und würdigte ihre 
Treue, aber sie erschien ihm, namentlich verglichen mit seiner Mutter, als 
eine kleine Prinzeß. „Man merkt ihr immer wieder an“, meinte er mehrals 
einmal zu mir, „daß sie nicht in Windsor aufgewachsen ist, sondern in 
Primkenau.‘“ Politische Eingriffe hat sich die Kaiserin nie erlaubt. Soweit 
sie sich um Politik kümmerte, stand sie auf dem Standpunkt eines ortho- 
dox-protestantischen Konservativen mit instinktiver Vorliebe für die
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.