264 MULIER FORTIS
Holstein zu besteigen. Sie hielt Bismarck für den „bösen Mann“ und
meinte einmal in meinem Beisein, der liebe Gott habe dem guten alten
Kaiser Wilhelm die für eine erfolgreiche Politik in dieser schlechten Welt
vielleicht notwendigen Sünden und Bosheiten ersparen wollen und sie des-
halb von Bismarck ausführen lassen.
Die partikularistischen Velleitäten der Kaiserin machten übrigens auf
ihren Gemahl nicht den mindesten Eindruck. Als er zum erstenmal als
Kaiser ein Manöver in der Provinz Schleswig-Holstein abhielt, ließ er die
Chefs der beiden Linien des Hauses Holstein, seine beiden Schwäger, den
Herzog Ernst Günther von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg
und den Herzog Friedrich Ferdinand von Schleswig-Holstein-Sonderburg-
Glücksburg, als Ordonnanzoffiziere vor seinem Wagen reiten.
Die Kaiserin Auguste Viktoria war eine optimistische Natur. Sie war
erfüllt von dem festen, unerschütterlichen Glauben an die göttliche Hilfe,
die den Frommen und Guten nicht im Stich läßt, wie uns das in so vielen
schönen Psalmen verkündet wird. Als die bösen Tage kamen, hoffte und
glaubte sie bis zuletzt. Sie war unermüdlich in Pflichterfüllung, in Fürsorge
für die Verwundeten, die Kranken und Hungernden. Sie hielt den Kaiser
aufrecht, sie ermutigte ihn, der leicht zwischen Furcht und Hoffnung hin
und her schwankte. Es ist richtig, daß sie sich über die Lage, in die wir durch
unsere ungeschickte Diplomatie im Sommer 1914 und durch eine schwache
politische Zügelführung während des ganzen Krieges geraten waren, bis
zuletzt Illusionen gemacht hat. Aber einmal hoffte sie wie Augustinus
contra spem, d.h. gegen menschliche Auffassung, auf die göttliche Hilfe.
Und dann fürchtete sie für den Fall, daß der Kaiser die Lage in ihrer vollen
Gefährlichkeit erkenne, einen völligen moralischen Zusammenbruch ihres
Gatten. Von diesem Gesichtspunkt ausgehend, hat sie bis zuletzt nach
Möglichkeit verhindert, daß dem Kaiser ganz reiner Wein eingeschenkt
wurde. Als aber der Niederbruch kam, war sie die Mulier fortis der Heiligen
Schrift. Sie hätte nicht Heer und Land verlassen. Sie behielt den Kopf oben,
sie hielt sich würdig und aufrecht, auch als roher Mob sie am 9. November
1918 in ihren Wohnzimmern im Schloß bedrohte und beschimpfte. An
ihrem Hochzeitstage war ihr Lieblingslied, das schöne Lied des Grafen
Nikolaus Zinzendorf: „Jesu, geh voran“, von der Schloßgemeinde gesungen
worden. Den zweiten Vers dieses Liedes hat die Kaiserin wahr gemacht:
Soll’s uns hart ergehen,
Laß uns feste stehen
Und auch in den schwersten Tagen
Niemals über Lasten klagen;
Denn durch Trübsal hier
Geht der Weg zu dir.