Delcass&
272 MARCHAND ZURÜCKGEHOLT
Räumung auf. Marchand weigerte sich, ohne Befchl seiner Regierung
Faschoda zu verlassen. Die französische Presse tobte, aber die französische
Regierung dachte nicht einen Augenblick daran, sich wegen einer afrika-
nischen Frage mit England zu brouillieren.
Die französische auswärtige Politik wurde damals von Delcasse geleitet,
dem zähesten und dabei geschicktesten Vertreter der Revanche-Idee, der
sein ganzes Denken, Sinnen und Leben gehörte. Er ließ der englischen
Regierung keinen Zweifel darüber, daß Frankreich aus der Faschoda-Frage
keinen ernsten Zwist, geschweige denn einen Casus belli machen würde,
Wie ich nicht lange nachher aus sicherer Quelle hörte, erklärte Delcasse
ohne Umschweife dem englischen Botschafter: „Solange die Deutschen in
Straßburg und Metz stehen, hat Frankreich nur einen einzigen permanen-
ten Feind. Unter diesem Gesichtswinkel werden wir jede Differenz mit
anderen Mächten, mit England wie mit Rußland, mit Italien und Spanien
wie mit Amerika behandeln und beilegen.‘“ Eine Note der Agence Havas
meldete denn auch, daß die französische Regierung beschlossen habe, die
Mission Marchand in Faschoda nicht aufrechtzuerhalten. Gleichzeitig de-
mentierte sie in scharfer Form alle beunruhigenden Gerüchte, die über die
Beziehungen zwischen Frankreich und England verbreitet würden. Es sei
durchaus unrichtig, daß in irgendeinem französischen Kriegshafen außer-
ordentliche Maßregeln getroffen würden. Ein mir befreundeter Vertreter
eines bei diesem Streitfall unbeteiligten Landes in Konstantinopel erzählte
mir später, daß, als dort die Nachricht eingetroffen wäre, daß Frankreich
in dem Faschoda-Streitfall auf der ganzen Linie nachgegeben hätte, der
französische Botschafter, Paul Cambon, der spätere Botschafter in London,
ihm gesagt habe: „Je suis ravi de cette bonne nouvelle.“ In Deutschland
verfielen damals öffentliche Meinung und Presse, wie schon früher und wie
leider nur zu oft auch später, in den Fehler, gegenüber dem englisch-fran-
zösischen Streit mit wenig Witz und viel Behagen, vor allem mit sehr wenig
Takt die Haltung anzunehmen, in der sich das Straßenpublikum gefällt,
wenn zwei Hunde aneinanderkommen. Gegenüber einer so schiefen Einstel-
lung und solchen Entgleisungen der deutschen Stimmung und der sie
reflektierenden Presse konnte ich acht Jahre später in meiner Rede vom
14. November 1906* mit Recht vom mißverstandenen Bismarck sprechen.
Weil in den Jahren des Werdens des Deutschen Reichs, in einer Zeit, wo
Eifersucht, Mißtrauen und Haß gegen unsere wachsende Macht und unseren
zunehmenden Wohlstand bei weitem nicht so hoch gestiegen waren wie
seitdem, Fürst Bismarck mit seiner einzigartigen, genialen Findigkeit aus
den Gegensätzen zwischen den anderen Großmächten Vorteile gezogen
* Fürst Bülows Reden. Große Ausgabe II, S. 326; Kleine Ausgabe IV, S. 134.