276 CHAMBERLAIN NACHDENKLICH
noch bevor ich Wind von dem Windsor-Vertrag bekam, Graf Paul Hatzfeldt
an seinen Freund Holstein richtete. Der Brief ist nicht uninteressant durch
die Schlaglichter, die er auf das Verhältnis zwischen dem Premierminister
Salisbury und dem Kolonialminister Chamberlain wirft. Er zeigt auch, wie
sich unser nüchterner und erfahrener Botschafter in London keine Illu-
sionen darüber machte, daß Chamberlain schon damals gern einen Vertrag
mit uns schließen wollte, der seine Spitze gegen Rußland richten sollte,
daß er uns reale Vorteile aber ebensowenig gönnte wie Salisbury.
Lieber Freund, London, den 27. Juni 1898
ich liege seit zwei Tagen zu Bett mit einer ziemlich starken Erkältung.
Verloren ist dabei nichts, da ich cs, auch wenn ich wohl wäre, nicht für
richtig halten würde, Salisbury gegenüber zu große Eile in der portugiesi-
schen Frage zu zeigen. Den Leuten hier, mit Einschluß von Salisbury und
Chamberlain, ist es odios, uns einen fetten Bissen zuwenden zu sollen.
Ihre Frage, ob ich glaube, daß durch Chamberlain mehr zu erreichen wäre,
glaube ich nach bestem Wissen verneinen zu müssen. Wenn ich ihm
einepolitische Abmachungmitder Spitzegegen Rußlandbieten
könnte, würde er mir gewiß erhebliche koloniale Zugeständnisse machen,
ohnedem aber nach meiner Überzeugung gewiß nicht. Mit Salisbury stehen
wir, obwohl er uns auch nichts gönnt, insofern besser, als er keine politische
Abmachung gegen Rußland verlangt und dennoch für politische Erwä-
gungen Verständnis hat, deren Gewicht Chamberlain nicht zu be-
urteilen vermag oder doch unterschätzt. Was ich meine, werden Sie
aus folgendem ersehen. Im Laufe einer meiner letzten Unterhaltungen mit
Salisbury über die portugiesische Frage sagte ich ihm: „Sehr zu bedauern
wäre es, wenn man hier nicht verstände, daß man durch eine unfreundliche
und abweisende Haltung in dieser Frage allen denjenigen bei uns, die gegen
freundschaftliche Beziehungen mit England und für eine intime Verständi-
gung mit seinen Gegnern sind, selbst Waffen und Argumente dafür
in die Hand gibt.“ Er machte ein nachdenkliches Gesicht und erwiderte:
„Das ist gerade die unangenehme Alternative, in der wir uns befinden.“
Obwohl er nicht näher darauf einging, beweisen diese Worte für den-
jenigen, der ihn kennt, hinreichend, daß die Besorgnis, uns ganz in das
russische Lager zu treiben, auf ihm lastet und in seinen Erwägungen eine
bedeutende Rolle spielt. Dies ist von Chamberlain nicht oder nicht in
demselben Maße zu erwarten. Bei dieser Gelegenheit will ich noch eine
andere Äußerung Salisburys vertraulich für Bülow und Sie anführen, da
sie sich für einen Bericht nicht eignet. Als ich ihm gegenüber hervorhob,
welche Dienste wir den Engländern bezüglich Ägyptens geleistet, und dabei