GEGEN DIE RÄDELSFÜHRER 297
er hatte mehr Verständnis für die Wechselbeziehungen zwischen innerer
und äußerer Politik, und vor allem stand ihm die Staatsräson über dem
Parteiinteresse. Er war nicht umsonst durch die Bismarcksche Schule
gegangen. Die Ausfälle des Kaisers gegen seine jüdische Abstammung
waren übrigens um so verwunderlicher, als Wilhelm II. in keiner Weise
Antisemit war. Generelle Abneigung gegen Juden und Judentum lag seiner
Natur und Art gänzlich fern. Er stand auch in persönlich freundschaft-
lichen Beziehungen zu vielen markanten Israeliten, wie Albert Ballin,
Emil Rathenau, Eduard Arnhold, Paul von Schwabach, Robert von Men-
delssohn und manchen anderen trefflichen Männern. Natürlich habe ich
mich gehütet, die Weisung hinsichtlich der „Preßhunde‘ auszuführen,
sondern im Gegenteil auf eine ruhige Behandlung des Kanalstreits in der
Presse tunlichst hingewirkt.
Trotz seines Zornes gegen die Kanalgegner wollte Wilhelm II. von einer
Auflösung des Abgeordnetenhauses nichts wissen, obwohl Fürst Hohenlohe,
der den preußischen Konservativen ein wenig mit der aus Hoffart und
Mangel an Verständnis gemischten Abneigung gegenüberstand, die der
süddeutsche Standesherr bisweilen gegen den norddeutschen Junker emp-
findet, auf die Auflösung hinarbeitete, in der Hoffnung, damit zu einer
liberalen Mehrheit in Preußen zu kommen. Aber gerade die letztere Mög-
lichkeit war dem Kaiser doch unsympathisch, und so hielt er denn an das
versammelte Staatsministerium eine Ansprache, in der er, originell wie so
oft, die ganze Angelegenheit nach militärischen Gesichtspunkten beurteilte.
Wenn ein Regiment rebelliere, führte Seine Majestät etwa aus, so würde es
deshalb nicht aufgelöst, denn das wäre ein Schaden für die Armee und un-
dankbar gegenüber den früheren Meriten des betreffenden Truppenteils. Aber
die Rädelsführer würden vor die Front gestellt und erschossen. Nach dieser
Analogie müßten jetzt alle Beamten, insbesondere die Landräte, die im
Abgeordnetenhaus gegen die Kanalvorlage gestimmt hätten, abgesetzt
werden. Mit Ausnahme des Fürsten Hohenlohe waren alle Minister gegen
eine solche Lösung. Miquel sah voraus, daß sie die konservativen Kreise
sehr erbittern würde, aber er zog sie noch immer der Auflösung vor, von
der er eine größere Schwächung seines Einflusses und seiner Position
befürchtete. So wurde eine große Anzahl biederer Landräte, darunter einige,
dieschon Jahrzehnte, getragen von dem Vertrauen aller Eingesessenen, ihre
Kreise verwalteten, als „Kanalrebellen‘“ zur Disposition gestellt. Unter
diesen „Rebellen“ befanden sich freilich verschiedene Herren, die, wie der
künftige Statthalter von Elsaß-Lothringen, Herr von Dallwitz, der künf-
tige Oberpräsident von Westpreußen, Herr von Jagow, und mehrere andere,
sich später wieder in der vollen Gnade Seiner Majestät sonnen durften.
Wenn das Ausscheiden der Landräte den Kaiser wenig berührt hatte, so