Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Erster Band. Vom Staatsseketariat bis zur Marokko-Krise. (1)

JOE CHAMBERLAIN 315 
Commons erblickte, hatte Disraeli von dem jungen Chamberlain gesagt, 
er trage sein Monokel „wie ein gentleman“. Aus solchem Munde war das 
ein hohes und wirksames Lob. Im deutschen Reichstag würde, bei unserer 
Neigung zu jener „Ruppigkeit“, für die andere Sprachen kaum einen 
adäquaten Ausdruck besitzen, das hohe Haus und die Galerie Chamberlain 
nach seinem Äußeren für einen „Gigerl‘“ oder einen „Fatzke“ erklärt und 
als solchen belächelt oder verhöhnt haben. Die Unterschätzung des Scheins 
und aller Äußerlichkeiten, zu welcher der „sachliche“ und „ernste“ 
Deutsche neigt und die, an und für sich preiswürdig, doch oft in Formlosig- 
keit ausartet, hat zur Entfremdung zwischen Engländern und Deutschen 
nicht unerheblich beigetragen. Nicht lange vor dem Ausbruch des Krieges 
meinte ein sehr maßgebender Engländer: „A big German fleet and the bad 
German manners are more than we can stand.“ Chamberlain war der Sohn 
eines Londoner Schuhmachers, der den kleinen Joe, der zuerst Schuster- 
lehrling war, später zu seinem Schwager nach Birmingham schickte, wo er 
in dessen Schraubenfabrik eintrat. Auch Lloyd George ist der Sohn eines 
ehrsamen Schusters, aus Wales. Es liegt etwas darin, daß die stolzeste 
Aristokratie der Welt die Leitung der Geschäfte des Landes dem Israeliten 
Disraeli und den Schustersöhnen Chamberlain und Lloyd George anver- 
traute. Aber auch darin liegt etwas, daß die beiden Handwerkersöhne wie 
der Jude von dem brennenden Wunsche beseelt waren, sich nicht nur durch 
unerschütterlichen Patriotismus und ausgesprochen nationale Gesinnung 
und Haltung, sondern ebenso durch Wesen und Manieren der Aristokratie 
des Landes zu assimilieren. Es gibt keine demokratischere Aristokratie als 
die englische, aber auch keine aristokratischere Demokratie. Beide, Cham- 
berlain und Lloyd George, waren wie viele und hervorragende englische 
Politiker, namentlich unter den Liberalen und Radikalen, Dissenters, d. h. 
Angehörige von Sekten, die sich, wie die Methodisten, Quäker, Baptisten, 
Presbyterianer, weniger in der Lehre als in der Verfassung und in der Ord- 
nung des Gottesdienstes von der Staatskirche getrennt haben. 
Im Gespräch machte Chamberlain den Eindruck eines klugen, energi- 
schen, listigen, unter Umständen rücksichtslosen Geschäftsmannes, der 
noch mehr als andere seiner Landsleute alles ausschließlich vom Standpunkt 
der englischen Politik betrachtete und behandelte. Auch darin ganz Eng- 
länder, daß er nur auf das ihm nächstliegende Ziel, also in diesem Falle 
den Gewinn des von ihm angezettelten Burenkrieges losging, überzeugt, 
daß alles andere sich später so oder so finden würde. Er fing damit an, mir 
mit Lebhaftigkeit und großer Offenheit seine Anschauungen und Plänc aus- 
einanderzusetzen. Sein Ideal wäre ein Zusammengehen zwischen England, 
Amerika und Deutschland. Diese Gruppierung würde die Welt beherrschen. 
Sie würde das barbarische Rußland in seine Schranken zurückweisen und