Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Erster Band. Vom Staatsseketariat bis zur Marokko-Krise. (1)

316 DAS VERSCHIEDENE RISIKO 
das turbulente Frankreich zur Ruhe zwingen. Ich entgegnete ebenso offen, 
daß eine solche Gruppierung — Mr. Chamberlain hatte nicht das Wort 
Allianz gebraucht, und ich wollte es nicht vor ihm in den Mund nehmen — 
meines Erachtens unter zwei Voraussetzungen möglich wäre. Einmal dürfte 
das Zusammengcehen zwischen den genannten drei Mächten keine direkte 
Spitze gegen Rußland tragen. Chamberlain meinte, es läge im Interesse der 
ganzen Welt, die russischen Expansionspläne einzudämmen. Ich setzte ihm 
auseinander, daß Deutschland sich gegenüber Rußland in einer anderen, 
prekäreren Lage befände als England. Wir grenzten an Rußland, England 
sei durch die See geschützt und ein russisches Vorgehen gegen Indien 
schwerer auszuführen als ein russischer Vorstoß gegen Königsberg und selbst 
gegen Berlin. Bei so verschiedenem Risiko müßten wir jedenfalls von Eng- 
land Bürgschaften und genau umschriebene Garantien und Sicherungen 
für den Fall kriegerischer Verwicklungen erhalten. Die zweite Voraussetzung 
für das, wie ich wiederholt betonte, nicht nur von mir persönlich, sondern 
auch vom Reichskanzler Hohenlohe und von Kaiser Wilhelm lebhaft ge- 
wünschte, möglichst freundschaftliche und enge Zusammengehen mit 
England wäre, daß letzteres, namentlich solange der Burenkrieg dauere, 
Rücksicht auf unsere öffentliche Meinung nähme und alles unterlasse, was 
sie zu sehr irritieren könnte. Mr. Chamberlain meinte in höflichem Ton, 
aber in der Sache nicht ohne englischen Hochmut, in Deutschland gäbe es 
ja gar keine öffentliche Meinung. Das deutsche Volk empfinde so, wie seine 
Regierung dies wünsche. Der Kaiser habe dem Prinzen von Wales, als 
dieser ihm seine Anerkennung dafür ausgesprochen habe, daß er trotz 
des Burentaumels in Deutschland nach England gekommen wäre, mit 
einer energischen Handbewegung erwidert: „I am the sole master of 
German policy, and my country must follow me, wherever I go.“ Der 
Kaiser sage jedem, der es hören wolle, er selbst sei die deutsche öffentliche 
Meinung, und die Deutschen dächten so, wie er wünsche, daß sie dächten. 
Ich kannte den Kaiser zu gut, um nicht zu wissen, daß, wenn er sich auch 
so kraß wohl nicht ausgedrückt hatte, er doch dazu neigte, vor Fremden 
und namentlich vor Engländern sich das Ansehen zu geben, als ob er ä la 
Louis XIV. sagen könnte: „L’Etat c’est moi.“ 
Ich machte dem englischen Kolonialminister klar, daß wir in Deutsch- 
land zwar keine so geschulte öffentliche Meinung hätten, wie es die englische 
wäre, wir hätten kein so altes öffentliches Leben, unser auf vielen Gebieten 
reich begabtes Volk, das der Menschheit größere Werte geschenkt hätte als 
irgendein anderes Volk seit den Griechen, wäre für Philosophie, Kunst und 
Wissenschaft begabter als für die eigentliche Politik. Aber mit der öffent- 
lichen Meinung müsse auch in Deutschland jede Regierung, mit ihr müsse 
auch der Kaiser rechnen, wenn er nicht unangenehme Erfahrungen
	        
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