10 „DIE ALTE REICHSSCHAUTE“
Beide Eigenschaften getragen von der Erfahrung eines fast achtzigjährigen
Lebens und dem Weitblick des Grandseigneurs, der nicht nur viel gesehen
hat, sondern dem auch, was mindestens ebenso wichtig ist, weniges impo-
niert. Wenn der Kanzler sich von Marschall ohne übertriebenes Bedauern
getrennt hatte, so ging das Scheiden von Bötticher ihm nahe. Bötticher
war ein Beamter nach seinem Sinn: arbeitsfreudig, bereit, nach höheren
Wünschen und wie es gerade befohlen wurde, Rechts- oder Linksgalopp,
zu gehen. Bötticher hatte auch durch seine etwas subalternen Formen das
Herz des alten Fürsten gewonnen, der nicht vergaß, daß sein Haus einst
souverän gewesen war und daß noch sein Großvater selbst Minister an-
gestellt und entlassen hatte. Er war nie zufriedener, als wenn er, zweimal
im Jahr, an seinem Geburtstag und an dem Geburtstag der Fürstin, seinen
Hausorden, den Phönixorden, anlegte, den Philipp Ernst I., Fürst zu Hohen-
lohe, 1757 gestiftet hatte und der unter Anspielung auf den Namen des
erlauchten Geschlechts die Devise trug: „Ex flammis orior.‘“ Bötticher
hatte das ganze Herz Seiner Durchlaucht dadurch gewonnen, daß er ihn
stets „mein gnädiger Herr“ nannte. Er opferte den guten Bötticher ungern
dem rasenden See der hinter der sogenannten Bismarckfronde und dem
Bund der Landwirte stehenden Konservativen. Hohenlohe frug mich, was
ich von Posadowsky hielte. Er gelte für einen Streber und Scharfmacher.
Ich erwiderte, daß ich Posadowsky noch gar nicht kenne, was den Kanzler
angenehm berührte. Ich fügte hinzu, daß nach allem, was ich hörte,
Posadowsky ein hervorragend tüchtiger Beamter wäre.
Probleme der inneren Politik schienen den Fürsten besonders zu prä-
okkupieren. Auf diesem Gebiet waren für ihn offenbar zwei Gesichtspunkte
maßgebend: der dringende Wunsch, seine seit dem Jahre 1848 und in
München wie in Berlin und Straßburg sorgsam aufrechterhaltene und
gepflegte Aureole als liberaler Staatsmann nicht einzubüßen, dadurch aber
doch nicht das Wohlwollen und die Gunst des Kaisers zu verlieren. Er
wiederholte mehrfach, er wünsche sich einmal in Frieden vom Kaiser zu
trennen. Er wolle weder wie Bismarck mit einem Krach von Seiner Majestät
scheiden, noch wie Caprivi als unbequemer Haushofmeister verabschiedet
werden, dem die Herrschaft, weil er ihr durch Eigensinn und Harthörigkeit
auf die Nerven geht, schließlich den Stuhl vor die Tür setzt. Das Verhältnis
des Fürsten zum Kaiser war nicht ganz einfach. Der Kaiser nannte ihn
Onkel und motivierte dies damit, daß die Mutter der Kaiserin eine Hohen-
lohe gewesen wäre. Die Kaiserin aber nannte den Fürsten Chlodwig vor
Menschen niemals Onkel, sondern nur „lieber Fürst“, betonte auch nie
irgendwelche Verwandtschaft. Wenn der Kaiser dies tat, so hinderte ihn
das nicht, sich oft sehr ungeniert über Onkel Chlodwig auszudrücken, den
er „die alte Reichsschaute“ zu nennen pflegte. Der Fürst war schwerhörig