CHAMBERLAINS EHRGEIZ 337
welchem bei der derzeitigen Inferiorität unserer maritimen Macht kein
deutscher Patriot ohne Bedenken entgegensehen könnte. Ich kann hier-
nach meine Beurteilung der hiesigen Stimmung dahin zusammenfassen,
daß das englische Volk und seine Organe in ihrer Mehrheit den kaiserlichen
Besuch nicht mißverstanden, seine Bedeutung nicht aufgebauscht und zu-
gunsten der afrikanischen Politik verwertet haben, daß sie vielmehr unsere
Neutralität respektieren und unsere Nichteinmischung dankbar anerkennen,
im übrigen aber nicht den Versuch machen, die Freiheit unserer Bewegung
irgendwie beeinträchtigen zu wollen, sondern nur wünschen, die kommen-
den, sei es kolonialen, sei es europäischen Fragen im Einverständnis mit
uns zu lösen. Der Besuch Seiner Majestät des Kaisers in England hat daher,
weit entfernt, uns nach einer Richtung die Hände zu binden, unsere Aktions-
freiheit unberührt gelassen, während im entgegengesetzten Falle eine Ent-
fremdung eingetreten wäre, welche uns schon mit Rücksicht auf unsere
kolonialen Interessen keineswegs erwünscht sein könnte. Über die vor-
stehend von mir hervorgehobene maßvolle Haltung in der hiesigen Presse
und in den Hof- und Regierungskreisen ist inzwischen Mr. Chamberlain,
von welchem es am wenigsten zu erwarten war, in seiner Rede in Leicester
hinausgegangen, indem er darin die Frage einer Allianz mit Deutschland
offen und unverhüllt aufstellte. Ich muß es mir vorläufig noch versagen,
über die Motive dieses Vorgehens eine bestimmte Meinung auszusprechen,
die sich vorläufig nur auf Vermutungen begründen ließe, und darf mir des-
halb vorbehalten, auf diese Frage später zurückzukommen. Dagegen möchte
ich schon hier an die mehrfach von mir ausgesprochene Ansicht erinnern,
daß Mr. Chamberlain zwar ein sehr fähiger und schlauer Geschäftsmann,
aber durchaus kein Diplomat ist, der sich in seinen Handlungen durch
bestimmte Regeln begrenzen läßt. So groß sein persönlicher Ehrgeiz ist, so
darf doch meines Erachtens nicht angenommen werden, daß er sich aus-
schließlich dadurch leiten und nicht gleichzeitig durch bestimmte politische
Überzeugungen leiten läßt. Sein Gedanke einer Allianz mit Deutschland
und Amerika ist aber, wie Eure Durchlaucht sich erinnern wollen, durch-
aus kein neuer, und er hat denselben schon vor längerer Zeit in geheimen
Unterredungen mit mir, über die ich damals ausführlich berichtet habe,
wiederholt besprochen. Wenn er heute damit vor die Öffentlichkeit tritt,
s0 beweist dies meines Erachtens, daß er auch in dieser Frage den größten
Teil des Kabinetts hinter sich zu haben glaubt und daß er ferner den Zeit-
punkt für gekommen hält, das englische Publikum, welches bisher vor
jeder Allianz zurückschreckte, an den Gedanken einer solchen zu gewöhnen.
Für keineswegs ausgeschlossen halte ich, daß er dabei aus persönlichem
Ehrgeiz den Zweck verfolgt, es zum Bruch mit Lord Salisbury zu treiben und
denselben aus dem Sattel zu heben, um sich an seine Stelle zu setzen. Nach
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