DR. SCHÄDLER GEGEN GOETHEDENKMAL 355
Individualität des Kaisers, sondern auch unser Volk in seiner Gesamtheit
flößte mir ernste Sorgen ein. Ich konnte mich bei einer solchen retro-
spektiven Betrachtung nicht der Einsicht verschließen, daß das deutsche
Volk, über das die Vorsehung während des seinem Ende entgegengehenden
Jahrhunderts so viel Glück, so viele Wohltaten und Güter ausgeschüttet
hatte, das sich aus dem Elend von Jena und Tilsit zu dem Ruhm von
Dennewitz und Leipzig erhoben und von der französischen Zwingherrschaft
befreit hatte, das durch Bismarck zu Einheit, Macht und Größe geführt
worden war, wie esunsere Väterersehnt, aber in solchem Ausmaß und solcher
Fülle kaum für möglich gehalten hatten, leider noch immer weit davon
entfernt war, das nationale Empfinden, das nationale Ehrgefühl, den patrio-
tischen Stolz und auch nur den patriotischen Takt anderer Völker zu be-
sitzen. Schr bezeichnend dafür war mir eine kurze Debatte gewesen, die
1899 im Reichstag über ein Goethedenkmal für Straßburg stattfand. Der
warmherzige und hochgebildete nationalliberale Abgeordnete Prinz Heinrich
Carolath, persönlich ein Goethekenner und Goethejünger, hatte beantragt,
als Beihilfe zu den Kosten eines Goethedenkmals in Straßburg den Betrag
von M. 50000 in einen Ergänzungshaushalt einzustellen. Dieser Antrag
wurde unter völliger Teilnahmlosigkeit des Hauses diskutiert. Ein wenig
sympathisches Mitglied des Zentrums, der Abgeordnete Schädler, frug:
„Warum soll Goethe gerade in Straßburg ein besonderes Denkmal haben ?“
Aus praktischen, nüchternen Erwägungen trete er, Schädler, dem Antrag
entgegen. Der Etat enthalte schon viel zu viel Forderungen für Kunst und
Wissenschaft. Auch sei der Antrag gefährlich wegen seiner etwaigen Konse-
quenzen für andere „große Männer“, denen man auch Monumente werde
errichten wollen. In welchem Lande außer in Deutschland war ein solcher
Vorgang, eine so unwürdige Rede möglich! Man denke sich, daß in der
französischen Deputiertenkammer jetzt, nachdem wir, Gott sei es geklagt,
„die wunderschöne Stadt‘ wieder verloren haben, der Vorschlag gemacht
würde, Rouget de l’Isle ein Denkmal in Straßburg zu errichten, wo das
Sturmlied der Französischen Revolution von ihm zuerst vorgetragen
worden war. Jeder Abgeordnete, der sich gegen einen solchen Antrag wenden
sollte, würde von der Tribüne heruntergerissen werden. Er würde all-
gemeiner Verachtung verfallen und sich nicht mehr auf der Straße zeigen
können. Ein solcher Abgeordneter würde sich aber in Frankreich, Italien und
England, in allen anderen mir bekannten Ländern überhaupt nicht finden.
Jene Diskussion vom 26. Januar 1899 war mehr als symptomatisch, eine
Rede wie des Domherrn Schädler war tief beschämend. Konnte Deutsch-
land wirklich reiten, nachdem es von Bismarck in den Sattel gesetzt
worden war? Schon in den achtziger Jahren hatte der Baumeister des
Reichs darüber geklagt, daß, kaum fünfzehn Jahre nach der Wieder-
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