Waldersces
Charakter
370 DIE VORSCHUSSLORBEEREN
15. August waren die verbündeten Truppen in Peking eingezogen und hatten
die Gesandten gerettet. Seitdem interessierte der chinesische Feldzug Wil-
helm II. viel weniger, und es dauerte nur noch wenige Monate, bis er von
der ganzen Chinasache nicht mehr viel zu hören wünschte und es gnädigst
mir überließ, den Knäuel zu entwirren. Graf Waldersee hatte sich in seinem
ersten Jubel über seine Ernennung verleiten lassen, auf seiner Fahrt durch
Deutschland an verschiedenen Orten nicht immer geschmackvolle Ovationen
entgegenzunehmen, auch in seinen Ansprachen sehr weitgehende Erwar-
tungen erweckt, so daß der nüchterne Eugen Richter nicht ganz mit Un-
recht von Vorschußlorbeeren sprechen konnte, die dem Generalfeld-
marschall überreicht würden. Die Gerechtigkeit erfordert, anzuerkennen,
daß, einmal in China eingetroffen, Graf Waldersee klug und verständig,
mit der wünschenswerten Energie, aber auch mit dem erforderlichen Takt
auftrat, daß er alles Notwendige erreichte, seine Würde als Oberbefehls-
haber wahrte und doch gleichzeitig bei keiner anderen Macht Anstoß
erregte.
Graf Albert Waldersee besaß neben Fehlern auch hervorragende Quali-
täten. Er entstammte der morganatischen Ehe eines Herzogs von Anhalt
mit einer Dame bürgerlicher Herkunft und erinnerte im vertrauten Kreise
gelegentlich daran, daß seine Vorfahren in der Erbgruft der Askanier
ruhten und schon deshalb weite Horizonte sich vor ihm auftäten. Wie
manche ambitiöse Leute, neigte er zur Intrige, von der ja selbst ein Disraeli
gesagt hat, daß sie letzten Endes für einen fähigen Mann unentbehrlich
wäre, um die schwierigsten Passagen des Aufstiegs zu überwinden und auf
der Höhe anzulangen. Waldersee zierten jedoch auch einige der ernsten
Eigenschaften, die Disraeli neben der Intrige verlangte. Er war geschickt,
aber auch tüchtig, schlau, aber dabei verständig, er konnte scharf sein,
wenn dies geboten erschien, und glatt wie ein Aal, wo er sich durchschlän-
geln wollte. Er verstand es, Fortuna bei der Stirnlocke zu ergreifen und die
günstige Gelegenheit abzupassen.
Vergebens, daß ihr ringsum wissenschaftlich schweift,
Ein jeder lernt nur, was er lernen kann;
Doch der den Augenblick ergreift,
Das ist der rechte Mann.
Ich möchte annehmen, daß in einem großen Krieg Graf Waldersee als
Chef des Generalstabs gut abgeschnitten hätte. Als Reichskanzler wäre
Waldersee ein Unglück gewesen, als Chef des Stabes hätte er die Zügel der
militärischen Leitung fester in der Hand behalten als der bedauernswerte
Generaloberst von Moltke, seine Nerven hätten besser standgehalten. Es
war das furchtbare Verhängnis des Reiches, daß gerade, als wir 1914 in den