Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Erster Band. Vom Staatsseketariat bis zur Marokko-Krise. (1)

„SEHEN SIE, WIE WEIT SIE KOMMEN!" 383 
Landwirtschaft für unbedingt erforderlich hielte und daraus eine Vorbe- 
dingung für die Übernahme der Leitung unserer inneren Politik machen 
müsse. Die Landwirtschaft habe nicht nur mit großen Schwierigkeiten zu 
kämpfen, sondern der landwirtschafttreibende Teil der Bevölkerung gehe 
auch beständig zurück, wäbrend die im Dienste der Industrie stehenden 
Arbeitermassen sich ebenso ständig vergrößerten. Die Städte schwöllen 
immer mehr zu riesigen Wasserköpfen an, das flache Land entvölkere sich. 
Darin läge eine große Gefahr: nicht nur vom Standpunkt unserer militäri- 
schen Stärke, denn das platte Land liefere alles in allem bessere Soldaten 
als die Städte, sondern für unsere ganze soziale Struktur. Es gebe in 
Deutschland weit mehr große Städte als in Frankreich und Italien, das 
Mißverhältnis zwischen dem ackerbautreibenden und dem in Fabriken 
tätigen Teil der Bevölkerung sei bei uns viel größer als jenseits der Vogesen. 
Außer Paris, das Kopf und Herz des Landes wäre, zähle Frankreich nur 
11 Städte mit über 100000 Einwohnern, wir aber deren 30. Der Kaiser warf 
ein, daß die Entwicklung in England noch mehr im Sinne der Industriali- 
sierung ginge als bei uns. Ich mußte ihm sagen, daß England in der poli- 
tischen Schulung seiner Bevölkerung, in der Einsicht und Klugheit seiner 
Aristokratie, in der nationalen Gesinnung seiner Massen weit größere 
Sicherungen in sozialer und staatlicher Hinsicht biete als Deutschland. 
Der Kaiser war sichtlich erstaunt über meinen Widerspruch, frug aber 
schließlich, ob ich nicht einsähe, daß, wenn wir nicht zu Handelsverträgen 
kämen, dies für uns ein „ganz fürchterlicher Schlag“ sein würde. Ich be- 
ruhigte ihn mit der Versicherung, daß, wie ich bestimmt hoffe, ich auch bei 
stärkerem Schutz der Landwirtschaft gute Handelsverträge mit Rußland, 
Österreich, Italien, Rumänien, der Schweiz zustande bringen würde. Wir 
müßten den Weg zwischen den beiden Leuchttürmen finden: wirksamer 
Schutz für die Landwirtschaft auf der einen, Handelsverträge, mit denen 
sich unsere Industrie gedeihlich entwickeln könne, auf der anderen Seite. 
„Also ähnlich wie in der auswärtigen Politik, wo wir auch zwischen Eng- 
land und Rußland unseren Weg finden sollen“, meinte schließlich der 
Kaiser, „nun, sehen Sie, wie weit Sie kommen.“ Ich bat den Kaiser, mir 
zu erlauben, meinen Amtsvorgänger, den Fürsten Hohenlobe, aufzusuchen, 
und wurde von ihm an der Elisabethquelle mit einem Händedruck und der 
scherzhaften, aber freundlichen Wendung entlassen: „Mein verehrter Herr 
Kanzler, auf Wiedersehen beim Frühstück.“ 
Fürst Hohenlohe empfing mich mit der Ruhe, die ihn nie verließ, aber 
mit warmer und von Herzen kommender Güte. „Sie werden sich erinnern“, 
sagte er mir, „daß ich Ihnen schon vor zwanzig Jahren in Paris voraus- 
gesagt habe, Sie würden einmal Reichskanzler werden. Mein Freund 
Völderndorff hat es Ihnen damals auch prophezeit, auf dem Pont de la 
Unterredung 
mit Hohenlohe
	        
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