Ernennung
zum
Reichskanzler
384 DEN STIER BEI DEN HÖRNERN GEFASST
Concorde, wie er mir oft erzählte.‘ Der Fürst setzte mir auseinander, wie er
wohl wisse, daß ich es gern gesehen hätte, und das nicht nur für mich,
sondern auch für das Reich, wenn er noch einige Zeit geblieben wäre. Sein
Gesundheitszustand mache das aber wirklich zur Unmöglichkeit. Er habe
auf der Reise nach Homburg infolge seines rasch fortschreitenden IHlerz-
leidens zwei schwere Beklemmungsanfälle gehabt. Er las mir dann einen
Brief seiner seit langem von mir sehr verehrten Schwiegermutter, der Fürstin
Leonille Wittgenstein, vor, die erst achtzehn Jahre später, im Alter von
102 Jahren, sterben sollte. Die Fürstin schrieb ihrem Schwiegersohn, sie
riete ihm dringend, jetzt zurückzutreten. Er sähe auf eine lange und schöne
politische Laufbahn zurück. Er möge zurücktreten, solange der Kaiser
und die Nation seinen Rücktritt bedauerten, nicht aber warten, bis man ihn
zum Abgange dränge. „Das ist auch meine Absicht“, fügte Fürst Hohenlohe
hinzu. „Sie aber begleiten meine herzlichen und aufrichtigen Wünsche und
Hoffnungen.“
Als ich mich in mein Zimmer zurückzog, um mich zum Mittagsmahl um-
zuzichen, zu dem mich der Kaiser eingeladen hatte, klopfte es an meine Tür.
Es war der gute alte Lucanus. „Nun“, sagte er mir, „Sie haben den Stier
bei den Hörnern gefaßt. Daß Sie dem Kaiser am ersten Tage Ihrer Kanzler-
schaft widersprochen haben, und das in einer heikligen Frage, hat ihm
imponiert. Nun aber ziehen Sie auch wieder nette Saiten auf, und vor allem
sehen Sie, daß wir Handelsverträge bekommen.“
Als ich in das Homburger Schloß durch das alte, von Efeu umrankte
Tor eintrat, über dem der Landgraf mit dem silbernen Bein, der Sieger von
Fehrbellin und Held des bekannten Dramas von Heinrich von Kleist, der
schönsten Verherrlichung preußischen Waffenruhms und preußischen
Geistes, aus dem Schloß herausreitet, wurde ich zuerst von der Kaiserin
empfangen. Sie drückte mir bewegt und gütig die Hand. Sie habe Ver-
trauen zu mir, weil sie wisse, daß ich es gut mit dem Kaiser meine. Sie
würde mir helfen, so viel sie könne. Sehr weit reiche freilich ihr Einfluß auf
den Kaiser nicht, fügte sie mit wehmütigem Lächeln hinzu. Es freue sie,
daß ich gerade zur Einsegnung des Prinzen Adalbert, ihres dritten Sohnes,
eingetroffen wäre. Sie blieb immer die gute Mutter. Nach dem Mittagsmahl
vollzog der Kaiser mit allerlei gutmütigen und harmlosen Scherzen die ihm
von Lucanus unterbreiteten Unterschriften, durch die dem Fürsten Hohen-
lohe die nachgesuchte Entlassung unter Verleihung des hohen Ordens vom
Schwarzen Adler mit Brillanten erteilt und ich zum Reichskanzler und
Präsidenten des Preußischen Staatsministeriums ernannt wurde.
Im Laufe des Nachmittags suchte ich die einzige Tochter des Generals
Friedrich Wilhelm Bülow, des Siegers von Dennewitz, auf, die, damals fast
neunzigjährig, ihren Lebensabend in Homburg verbrachte. Sie war die