General
Werder über
den
russischen Hof
406 DER ZAR GEREIZT GEGEN DEN KAISER
germanisches oder semitisches Blut fließe, hatte Tschirschky die Schwäche,
Seiner Majestät zu erzählen, daß seine Gattin dem Hochadel angehöre.
Bei einem Diner auf der österreichischen Botschaft in Berlin frug WilhelmII.
in meinem Beisein den Botschafter Szögyenyi: „Nicht wahr, Frau von
Tschirschky ist von großer Familie?“ Echt österreichisch entgegnete der
Botschafter: „Eire Majestät, ich bittäh, Frau von Tschirschky ist aus
guter, aus szär einer guten, guten Familie. Aber von (mit Betonung) Fa—
mühl—je kann beiläufig nit die Rede sein.“ Als der Kaiser am nächsten
Tage, nicht von mir, über das Pedigree der Frau von Tschirschky orientiert
wurde, meinte er lachend und mit herzerfrischendem, gesundem Menschen-
verstand: „Tschirschky kann dankbar sein, daß er einen vermögenden, und
glücklich, daß er einen ehrenwerten Schwiegervater hat. Ob dieser nun der
finnisch-ugrischen, der indogermanischen oder der semitischen Rasse ange-
hört, ist ja ganz egal.“ Ich wiederhole noch einmal: Ein Philister war
Wilhelm II. wirklich nicht.
Aus Petersburg hatte ich noch als Staatssekretär von unserem früheren
langjährigen General ä la suite der Kaiser Alexander II. und AlexanderIIL.,
dem General von Werder, wohl demjenigen Deutschen, der während der
letzten fünfzig Jahre persönlich in Rußland am beliebtesten war, am
1. März 1900 einen längeren Brief über die dortige Stimmung erhalten.
Einer Einladung des Kaisers Nikolaus II. folgend, hatte Werder längere
Zeit als Gast der russischen Majestäten im Winterpalais geweilt. Werder
schrieb mir: „Der Kaiser Nikolaus hat mich wie immer in der liebens-
würdigsten und sympathischsten Weise empfangen. Er ist gesünder denn je,
hat zehn Pfund zugenommen und geht bei schlechtem Wetter auf die Jagd.
Ich hörte, daß er leider außerordentlich gereizt gegen unseren Kaiser ist.
Der Großherzog von Hessen soll nicht unterlassen haben, zu schüren. Bei
meinem Besuch hat der Zar nicht nach Seiner Majestät gefragt. Anderer-
seits hat der Zar es sehr übelgenommen, daß der Thronfolger (Großfürst)
Michael in England nicht den Hosenbandorden bekommen hat. Der Zare-
witsch ist überhaupt nicht sehr zufrieden über seine Aufnahme in London
zurückgekommen. Seine Umgebung beklagt sich aber auch über unseren
Kaiser, welcher sie auffallend kühl behandelt und ihnen abfälligerweise den
Rücken zugekehrt hätte. Aber man kennt ja die Prätentionen der Herren,
namentlich die russischen Offiziere sind oft ungemessen, und es ist nur des-
halb unangenehm, weil eines zum anderen kommt und die Erzäblungen
darüber Öl ins Feuer gießen. Es liegt nichts Greifbares vor, man kann es
nicht fassen: wer hat beleidigt, wer ist der Beleidigte? So oft sind es nur
Kleinigkeiten, welche den Stoff zu Mißverständnissen liefern. Aber es ist zu
schlimm, wenn sie eine Kette bilden. Ich möchte Ihnen nur noch sagen,
daß man Alvensleben von allen Seiten mit Vertrauen entgegenkommt und