Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Erster Band. Vom Staatsseketariat bis zur Marokko-Krise. (1)

EIN ÜBERRASCHEND PLÖTZLICHES ABLEBEN 409 
war es Holstein gelungen, Stumm, der unter Bismarck Botschafter in 
Madrid geworden war, durch allerlei Quertreibereien den Dienst zu ver- 
leiden. Graf Alvensleben war als Junggeselle in St. Petersburg mehrere 
Jahre Botschaftsrat, fungierte auch wiederholt als Geschäftsträger und 
machte sich allgemein beliebt. Durch seine Vermäblung mit der verwitweten 
Generalin Winterfeld, geborenen Röder, hatte seine diplomatische Verwert- 
barkeit gelitten. Mit dem „plumpen Schwaben“ meinte Schweinitz Herrn 
von Kiderlen-Wächter, mit dem „liberalen Badenser‘ Herrn von Brauer, 
mit dem „katholischen Bayer“ den Grafen Berchen. Schweinitz traf den 
Nagel auf den Kopf, wenn er darauf hinwies, daß eins der bei verständiger 
deutscher Politik unlösbaren Bande, die Rußland an Preußen fesselten, die 
Teilung Polens wäre mit allen ihren Konsequenzen. Er hatte auch recht, 
wenn er forderte, daß unsere Beziehungen zu Rußland so sorgsam gepflegt 
werden müßten, daß wir selbst im schlimmsten Fall ein preußisch-russisches 
Bündnis haben könnten, gleichviel auf wessen Kosten. Das galt nicht nur 
für ein eventucelles Zerwürfnis im Reich, sondern in noch höherem Grade für 
das Verhältnis zwischen uns, Rußland und Österreich. Wir durften uns, 
wenn wir dem fridericianischen, dem bismarckschen Geiste treubleiben 
wollten, nicht ganz die Möglichkeit verbauen, in dem allerschlimmsten 
Fall uns mit Rußland auf Kosten von Österreich zu arrangieren. 
Während des Sommers 1900 war der russische Minister des Auswärtigen, 
Graf Murawiew, 55 Jahre alt, plötzlich gestorben. Sein Tod war ein Verlust 
für uns, denn er hatte zwei gute Eigenschaften: er war klug genug, voraus- 
zusehen, daß ein großer Krieg in allen drei Kaiserreichen, namentlich aber 
in Rußland, für die monarchische Regierungsform eine gefährliche Probe 
sein würde, und er war von mißtrauischer und tiefer Abneigung gegen die 
Polen erfüllt. Sein Tod trat sehr unvermutet ein. Mein langjähriger Arzt 
und Freund Professor Renvers hat mir erzählt, daß sich Murawiew nicht 
lange vor seinem Tode von ihm habe untersuchen lassen. Renvers, dessen 
Diagnose selten fehlging, fand bei dieser Untersuchung das Herz von 
Murawiew in tadellosem Zustand. Ohne ein bestimmtes Urteil abgeben 
zu wollen, vertraute mir Renvers schon damals an, daß das Ableben des 
russischen Ministers des Äußern ihm sehr überraschend gekommen sei. 
Vierzehn Jahre später, bei Beginn des Weltkriegs, wurde der Finanzminister 
Witte gleichfalls sehr rasch und auch einigermaßen rätselhaft vom Tode 
ereilt. Beide, Witte wie Murawiew, starben der panslawistischen, revo- 
lutionären Bewegung sehr gelegen. Zum Nachfolger des Grafen Murawiew 
war nach einigem Schwanken am 8. August 1900 sein bisheriger Gehilfe 
Graf Lambsdorff ernannt worden. Lambsdorff war einer der treusten 
Jünger des ausgesprochen friedliebenden und deutschfreundlichen Mini- 
sters von Giers gewesen. Er war einer der wenigen Beamten des Hauses an 
Tod 
Murawiews, 
Nachfolge 
Lambsdorffs
	        
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