BISMARCK ÜBER DEN ENGLISCHEN BULLEN 429
länder, die Helden wir. Eine grobe Geschmacklosigkeit und eine Ungerech-
tigkeit, denn wenn sich die Deutschen unbeschadet ihrer kommerziellen
und industriellen Leistungsfähigkeit wahrlich als ein Volk von Helden
zeigten, so läßt sich dies Lob auch den Briten nicht versagen. Schon vor
dem Kriege begegneten sich deutsche Konservative und Liberale in der
Abneigung gegen den Kultus, den im Gegensatz zu dem mehr „gemütlichen“,
d. h. saloppen und spießbürgerlichen Deutschen der Engländer mit der
äußeren Form treibt, in der Antipathie gegen die englische Unterwürfigkeit
gegenüber dem strengen Zepter der Mode. Von der Unterschätzung der
englischen Kräfte und der moralischen Ressourcen des Britischen Reichs
war selbst Fürst Bismarck nicht ganz frei. Ich habe ihn in den achtziger
Jahren mehr als einmal sagen hören: der englische Bulle werde zu faul.
Im Interesse des europäischen Gleichgewichts wäre zu wünschen, daß dieser
Vierfüßler so lange von dieser oder jener Seite Fußtritte erhielte, bis er sich
von der Spreu erhebe und wieder tüchtig um sich stoße. In jener Zeit ver-
traute mir Herbert Bismarck an, sein großer Vater habe ihm als letzten und
eigentlichen Grund der von ihm inaugurierten deutschen Kolonialpolitik
den Wunsch bezeichnet, zwischen Deutschland und England „künstliche
Reibungsflächen“ zu schaffen, damit der damalige Kronprinz und der da-
malige Prinz Wilhelm, beide von Hause aus und mit dem Gefühl sehr anglo-
phil, uns nicht zu sehr in die englische Intimität und damit in die englische
Abhängigkeit führen könnten, was vom Standpunkt der auswärtigen
Politik ebenso bedenklich wäre wie im Hinblick auf unsere inneren Ver-
hältnisse.
Wenn ich zwanzig Jahre später daran zurückdachte, so deuchte mir,
die fromme Schloßgemeinde von Homburg vor der Höhe habe nicht ganz
mit Unrecht am 18. Oktober 1900 gesungen, daß Wahn bisweilen auch die
Weisen treibe und Trug die Klugen halte. Wenn ich seit jeher und bis zu-
letzt die Kraft und die Gefährlichkeit Albions richtig einschätzte, so bin
ich nicht so geschmacklos und so albern, mir gegenüber Bismarck darauf
etwas zugute zu tun. Ich war iin einem internationalen Milieu groß geworden,
war früh und oft mit Ausländern, insbesondere mit Engländern und Fran-
zosen, in Berührung gekommen. Ich gehörte einer jüngeren Generation an
als der große Fürst und hatte es darum leichter als er, sowohl England und
die Engländer wie auch die römische Kurie und den Katholizismus, viel-
leicht auch Demokratie und Sozialdemokratie zu sehen, wie sie sind.
Persönlich stand ich England mit einer Mischung von Bewunderung und
Neid gegenüber: Bewunderung für die Kräfte und Tugenden des englischen
Volks, für seine Pietät gegenüber dem Historischgewordenen, dieses sicherste
Kriterium starker und großer Völker, für seinen unbeugsamen National-
stolz und sein unerschütterliches Nationalgefühl, seinen fast untrüglichen