Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Erster Band. Vom Staatsseketariat bis zur Marokko-Krise. (1)

DIE QUADRATUR DES ZIRKELS 431 
Posadowsky und Tirpitz, diesen Mangel durch überragende fachliche 
Leistungsfähigkeit wettgemacht hätten. Sie fühlten diesen Mangel auch 
gar nicht, überzeugt, wie sie es mit einem großen Teil ihrer gebildeten 
Landsleute waren, daß ein moralischer Charakter, einige gut bestandene 
Examina, vielleicht auch der Titel als Hofrat oder Geheimrat vollständig 
ausreichten, damit ein biederer Deutscher überall gern gesehen sei. Vollends 
den Kanzlern, die wir seit der Revolution im Amt sahen, Scheidemann, 
Fehrenbach und Wirth, Hermann Müller und Bauer, von dem remuäntesten 
und einflußreichsten deutschen Politiker der ersten Revolutionsjahre, 
Matthias Erzberger, nicht zu reden, mangelte jede weltmännische Ader, 
ja jedes Verständnis für weltmännisches Auftreten und weltmännische 
Form. Alle diese Erscheinungen, die im Laufe des Krieges den Deutschen 
erst grenzenlos erstaunen, dann in steigendem Maße erbittern sollten und 
die, als mit der Auflösung und dem Verschwinden unserer herrlichen Armee 
der Respekt vor Deutschland, vor dem einzelnen Deutschen, vor dem 
deutschen Geist überall um 80 Prozent abnahm, sich noch akzentuierten, 
waren um die Wende des Jahrhunderts den meisten noch verborgen. Die 
wenigsten fühlten, daß zwischen uns und anderen Völkern nicht nur wirt- 
schaftliche Eifersucht und politische Feindschaft lagen, sondern vielfach 
auch gesellschaftliche Antipathien. Das häßliche Wort „boche‘“, das die 
Franzosen dem Volke angehängt haben, das einen Hölderlin und Mozart, 
einen Goethe und Wilhelm Humboldt hervorbrachte und in Dichtkunst 
und Sprache, in allen Künsten zarter, inniger, im besten Sinne feinfühlender 
ist als alle andern, soll ja bedeuten, daß der Engländer uns nicht „gentleman- 
like“, der Franzose nicht „‚gens du monde“ findet, der Italiener bei uns die 
„gentilezza“ vermißt. Wenn ich solche Symptome, diesen latenten Gegen- 
satz schon früher bemerkte, so war es, weilich einen großen, ja den größten 
Teil meines Lebens im Auslande zugebracht hatte, das Ausland kannte und 
die fremde Literatur und Presse verfolgte. Dagegen erklärten mir während 
des Weltkriegs mit einem gewissen Stolz deutsche Freunde, wackere und 
gelehrte Männer in angesehener, ja wichtiger Stellung, daß sie „grundsätz- 
lich‘ keine ausländische Zeitung in die Hand nähmen. 
Je mehr ich mich seit 1897, also während dreier Jahre, in meinen 
Wirkungskreis hineingearbeitet hatte, um so deutlicher hatte ich es als 
meine Hauptaufgabe erkannt, uns in Würde und Ehren den Frieden zu er- 
halten, um so deutlicher wurde mir, daß diese Aufgabe zum guten Teil sich 
mit dem Problem deckte, den für unseren Schutz unentbehrlichen Flotten- 
bau durchzuführen, ohne Zusammenstoß mit Albion. Holstein, der sich in 
spitzen Redensarten gefiel, pflegte zu sagen, daß diese Zumutung ihn an die 
Quadratur des Zirkels erinnere oder besser an das aus Eisen anzufertigende 
hölzerne Messer. Aber auch für den besonnen prüfenden Geist war diese
	        
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