Hatzfeldt
an Holstein
432 NICHT MEHR NUR BINNENVOLK
Aufgabe sehr, sehr schwierig. Oft habe ich während der neun Sommer, die
ich als Reichskanzler in Norderney verlebte, von unserer Villa Edda sorgen-
voll hinausgeblickt auf die dunkel wogende Nordsee, das deutsche Meer,
mich fragend, ob Gott es mir gewähren würde, diese Aufgabe zu lösen. Vor
wie nach meiner Ernennung zum Reichskanzler habe ich gerade England
gegenüber stets Ruhe und festen Mut empfohlen. Als ich am 10. Januar
1900 auf der Werft des Vulkan in Stettin den Schnelldampfer „Deutsch-
land“ der Hamburg-Amerika-Linie taufte, sagte ich in meiner Taufrede:
Deutschland, das dem Meer ungeheure Werte anvertraut habe, das seit
lange nicht mehr nur Binnenvolk im Herzen Europas sei, sondern im Vorder-
treffen der Konkurrenz stehe, müsse auch zur See stark genug sein, um
unseren Frieden, unsere Ehre und unsere Wohlfahrt wahren zu können.
„Wenn wir auf diesem, uns vom Schicksal vorgezeichneten Wege Hinder-
nisse zu überwinden und schwierige Stellen zu passieren haben, so wird
uns das weder irremachen noch niederbeugen. Mutig und stetig müssen
und wollen wir weiterschreiten*.‘“ Großherzogin Luise von Baden,
die Tochter des ersten, die Schwester des zweiten Deutschen Kaisers,
die Gemahlin desjenigen deutschen Fürsten, der die heilige Flamme
des deutschen nationalen Gedankens besonders innig und rein in seinem
Herzen hegte, telegraphierte mir am nächsten Tage: „Ich trage fast Be-
denken, Ihre so sehr in Anspruch genommene Zeit auch nur aufeinen Augen-
blick zu behelligen, kann mir aber dennoch nicht versagen, Ihnen auszu-
sprechen, wie sehr die patriotischen, maßvollen und begeisterungsreichen
Worte Ihrer gestrigen Rede in Stettin den dankbarsten Widerhall in mir
erweckt haben. Von Herzen wünsche ich Ihnen Glück zu dieser bedeutungs-
vollen Rede, ruhevoll und überzeugend in ernster Zeit.“ Die mir gestellte
Aufgabe war gelöst, über Erwarten gut, ja glänzend gelöst, als ein weder
direkt noch indirekt wegen der Flotte entstandener, nicht von England
noch mit England begonnener, sondern durch die täppische Behandlung
eines chronischen Orientgeschwürs ermöglichter Weltkrieg alle Anstren-
gungen langer, fruchtbarer Jahre vergeblich machte. So steht der Arzt,
der sich bewußt ist, ein ihm teures Leben über manche gefährliche Krisis
weggebracht zu haben, erschüttert vor dem Sterbebett des von ungeschickten
Pfuschern hinterher zugrundegerichteten Freundes.
Von aktuellem politischem Interesse waren für mich, wie schon gesagt,
die Briefe gewesen, die in den letzten Wochen meiner Geschäftsführung als
Staatssekretär Graf Paul Hatzfeldt an Baron Holstein gerichtet hatte.
Ende Juli 1900 hatte der Botschafter seinem Freunde geschrieben, er habe
ihm nicht viel Erfreuliches zu sagen. Wie er aus den Londoner Telegrammen
* Fürst Bülows Reden, Große Ausgabe I, 5. 98; kleine Ausgabe I, S. 131. _