DAS ALLZU PRÄPOTENTE AUFTRETEN 435
Um auf Marokko zurückzukommen: Holstein schrieb mir am 24. Au-
gust 1900 nach Norderney: „Auch ich habe wie Sie ernste Sorge, daß die
marokkanische Frage einmal losgeht. Wir müssen mit der Notwendigkeit
rechnen, daß Salisbury den Franzosen zwar nicht Tanger, aber das ganze
Binnenland von Marokko bis zum Atlantischen Ozean preisgibt, um sie in
anderen Fragen, z.B. für China und den Jangtse, nachgiebig zu stimmen,
oder auch nur in der Hoffnung, daß ein französischer Vorstoß am Atlan-
tischen Ozean Deutschland veranlassen würde, gegen Frankreich vorzu-
gehen. In der Tat weiß ich auch nicht, ob wir uns das würden gefallen lassen
können, ob wir daher nicht in Paris einen vorbeugenden, aber ernsten
diplomatischen Schritt tun sollten, für welchen das zweite Zirkular des
Sultans in Marokko (dringender Hilferuf) den Ausgangspunkt bilden könnte.
Münster würde deswegen seinen Urlaub zu unterbrechen haben. Die
Fassung und Nuance unserer Eröffnung bleibt noch zu erörtern: entweder
Anfrage, was Frankreich vorhat, oder Vorschlag, uns über Marokko zu
verständigen. Letzteres bei der bekannten Eigenart der Franzosen ziemlich
aussichtslos. Zu lange werden wir mit diesem Schritt nicht warten dürfen,
denn je mehr die französische Regierung sich mit einem Aktionsprogramm
festgelegt hat, desto schwerer wird sie zurückkönnen. Natürlich wird sie
ihre Antwort sehr davon abhängen lassen, wie die französischen resp. die
deutschen Beziehungen zu den anderen Mächten, namentlich zu England,
in dem Augenblick aussehen. Wenn die deutsch-englischen Beziehungen
gespannte sind, so wird Frankreich, welches der russischen Unterstützung
wenn auch nicht im ersten Augenblick, so doch nach den ersten französi-
schen Niederlagen ohnehin sicher ist, sich vielleicht mit dem Kriegs-
gedanken vertraut machen. Als wirksamstes Moment für den Frieden
bleibt allerdings auch dann noch die Furcht bestehen, daß ein siegreicher
General eine Gefahr für die gegenwärtige Regierung wie für die Republik
werden könnte. Die Beziehungen zu England sind in diesem Augenblick
wichtiger als je, und ich gäbe viel darum, wenn Salisbury unlustig oder un-
fähig würde, weiterzuregieren. Danach sieht es aber leider nicht aus. Der
Ton des letzten Hatzfeldtschen Briefes klang recht resigniert: kein Wunder,
denn alle Kreise werden einem ja gestört. Neid und Haß gegen unseren
allergnädigsten Herrn wachsen stetig infolge seines allzu präpotenten Auf-
tretens. Daß der kümmerliche kleine Russe jetzt nach Dänemark geht, ist
doch wieder eine offenbare Demonstration gegen S. M.“
Hinsichtlich einer deutsch-englischen Allianz stand ich, wie ich unter
Hinweis auf früher Gesagtes ausdrücklich wiederholen möchte, nach wie vor
auf demselben Standpunkt, den ich während der drei verflossenen Jahre in
Übereinstimmung mit dem Kanzler Hohenlohe und dem Botschafter Hatz-
feldt einnahm und den übrigens schon Caprivi und Marschall und vor allem
2E*
Die ma-
rokkanische
Frage
Allianz-Frage