DER „WELTHISTORISCHE MOMENT ERSTER GRÖSSE“ 445
Die beiden Flotten würden aneinander vorbeidefilieren, jeder der beiden
Souveräne auf der Kommandobrücke seines Flaggschiffs in der Marine-
uniform des anderen und mit dem Ordensband des anderen. Dann würde
nach dem Austausch der obligaten Umarmungen und Küsse in Cowes ein
Galadiner mit herrlichen Reden stattfinden.
Kein deutscher und erst recht kein englischer oder französischer
Pazifist war von so ehrlicher und tiefer Friedensliebe erfüllt wie Kaiser
Wilhelm II. Sein und unser Unglück war nur, daß seine Worte und seine
Gesten dieser inneren Stimmung nicht entsprachen. Wenn er in Worten
renommierte oder gar drohte, so war es übrigens nicht selten, um seine
innere ängstliche Gemütsstimmung zu betäuben. Heinrich Heine spricht
in einem boshaften Gedicht von den Kindern, die, um sich im Finstern
Mut zu machen, ein lautes Lied anstimmen. Ein englisches Blatt, der
„Spectator‘, erinnerte mit Bezug auf die vom Kaiser von Zeit zu Zeit
gehaltenen hochgemuten Reden an die irische Anekdote von dem Jungen,
der abends über den Kirchhof geht und seine Furcht unter Pfeifen ver-
birgt. Dazu kam der bedauerliche Hang zum Bramarbasieren und Re-
nommieren, den Wilhelm II. weder von seinem edlen, ritterlichen und
ganz furchtlosen, aber dabei innerlich bescheidenen Vater geerbt hatte,
noch von seinem gerade durch sein schlichtes Wesen so vornehmen Groß-
vater Wilhelm I., noch von seiner hochgebildeten, in ihrem Auftreten fast
schüchternen Mutter, noch von seinen beiden Großmüttern, der Kaiserin
Augusta und der Königin Victoria, die beide durch Würde und Takt auch
geistig auf der Menschheit Höhen wandelten.
Das Großsprecherische im Wesen Wilhelms II. war im Frühjahr 1900
in besonders charakteristischer Weise bei dem Toast zum Ausdruck ge-
kommen, den er am 6. Mai anläßlich der Mündigkeitserklärung des Kron-
prinzen in Gegenwart des fast siebzigjährigen Kaisers Franz Josef, vor den
fürstlichen Vertretern aller deutschen und vieler ausländischen Staaten
ausbrachte. Er erklärte in seiner Rede, daß es sich nicht um ein einfaches
Familienfest, sondern um einen „welthistorischen Moment erster Größe“
handle. Ach, diese Mündigkeitserklärung war nur ein höfisches Intermezzo.
Auch die Geburt des einzigen Sohnes des Kaisers Napoleon III. und die
des einzigen Sohnes des Kaisers Franz Josef, beide in meinen Jugend-
erinnerungen von mir gestreift, waren nicht wirklich historische Momente.
Und selbst die Geburt des Königs von Rom war kein Ereignis wie die
Reformation oder die große Französische Revolution oder die Einigung
Deutschlands durch Bismarck oder das italienische Risorgimento oder die
Unabhängigkeitserklärung der dreizehn Vereinigten Staaten von Nord-
amerika. Und doch hatte von der Geburt des Königs von Rom Victor Hugo
gesungen:
Toast bei der
Mündigkeits-
erklärung des
Kronprinzen