Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Erster Band. Vom Staatsseketariat bis zur Marokko-Krise. (1)

„JETZT MÄKELT ALLES“ 447 
nach seiner Amtsentsetzung 1838 schrieb: „Meine Vaterlandsliebe habe ich 
niemals hingeben mögen in die Bande, aus welchen sich zwei Parteien ein- 
ander anfeinden. Ich habe gesehen, daß liebreiche Herzen in diesen Fesseln 
erstarren. Wer nicht eine von den paar Farben, welche die kurzsichtige 
Politik in Kurs bringt, aufsteckt, wer nicht die von Gott mit unergründ- 
lichen Gaben ausgestattete Seele der Menschheit wie ein schwarz und weiß 
geteiltes Schachbrett ansieht, den haßt sie mehr als ihren Gegner, der nur 
ihre Livree anzuziehen braucht, um ihr zu gefallen.“ Darum habe ich mit 
allen Parteien nacheinander gestritten und gekämpft: mit den Konser- 
vativen im letzten Winter meiner Amtszeit (1908/1909), mit dem Zentrum 
1906, mit dem Freisinn wiederholt, mit den Sozialdemokraten fortgesetzt. 
Aber ich habe auch nie verkannt, daß in jeder Partei ein guter Kern war 
und daß es die Aufgabe einer weisen Staatsleitung ist, zwar jede Partei zu 
verhindern, durch fraktionelle Selbstsucht und Überspannung ihrer Son- 
derinteressen das Ganze zu schädigen, andererseits aber auch die Fähig- 
keiten und Kräfte aller Parteien zum Besten des Ganzen zu verwerten. 
Im Sommer 1899 hatte mir Philipp Eulenburg von der Nordlandreise 
geschrieben: „Ich sehe eine Art Bitternis überall herausblicken. Früher 
stritt ich mich mit mäkelnden zwei oder höchstens drei, jetzt mäkelt alles 
ohne Ausnahme in einer ermüdeten, hofinungslosen Weise, die dem gesam- 
ten Gefolge ein orientalisches Gepräge von Fatalismus gibt und — von miß- 
mutiger Angst vor dem Sultan. Es macht mich diese Erfahrung tief melan- 
cholisch. Der arme liebe Herr wird immer einsamer. Ich möchte Ihm so 
viel sagen — und dann schnürt sein Kalifentum mir die Kehle zu, wenn ich 
im Augenblick vorher glaubte, Harun-al-Raschid gütig im Volke wandeln 
zu sehen!““ Am folgenden Tage fuhr Eulenburg fort: „Ich ging mit dem 
Kaiser bei strömendem Regen zu Loenvand (Nord-Fjord). Er sagte mir: 
‚Wenn man das Gebaren der Leute zu Hause sieht, so kann man wirklich 
jede Lust verlieren, weiterzuregieren. Das einzige Mittel ist, gar nicht auf 
sie Rücksicht zunehmen. Die kolossale Diskreditierung, der Zusammenbruch 
des Parlamentarismus macht die öffentliche Meinung krank, so wie 
Rußland auch innerlich krank ist. Dort flüchtete man sich deshalb in die 
auswärtige Politik, bei uns macht sich die Krankheit in Zerfahrenheit und 
Unzufriedenheit Luft. Diese hemmen die Ziele der Regierung und werfen 
ihr Steine in den Weg, wo sie nur können!‘ Ich nahm meinen ganzen Mut 
zusammen und sagte (ziemlich wörtlich) folgendes: ‚Die Unzufriedenheit 
bemerke ich seit langer Zeit, und sie beginnt mir unheimlich zu werden, 
weil sich die sonst so zerrissenen Parteien in der gemeinsamen Erbitterung 
gegen Eure Majestät zusammenfinden.‘ Der Kaiser sagte: ‚Das ist Mir 
nichts Neues! Wenn Ich den Kampf gegen Bismarck acht Jahre ausgehalten 
habe, so kann Mich nichts mehr besonders anfechten. Dies Argument 
Wilhelm II. 
gegen den 
Parlamen- 
tarismus
	        
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