Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Erster Band. Vom Staatsseketariat bis zur Marokko-Krise. (1)

Zwischenfälle 
auf der 
Nordlandreise 
456 DER „KRACH" IN KIEL 
oder in der Eile oder auch, ohne viel nachzudenken, auf eigene Faust 
schrieb oder telegraphierte. In den nach der russischen Revolution von den 
Bolschewisten herausgegebenen Briefen des Kaisers an den Zaren ist leicht 
zu erkennen, welche ihm ganz von seinen verfassungsmäßigen Beratern 
aufgesetzt worden sind, welche ihm von diesen korrigiert wurden, welche 
von ihm im Entwurf abgeändert oder auch von ihm ganz allein konzipiert 
worden sind. Ich glaube übrigens, daß auch die englischen Minister nicht 
alle Briefe des Königs Eduard und namentlich der Königin Victoria kon- 
trolliert oder auch nur von allen Briefen gewußt haben. 
Am 14. Juli 1900 schrieb mir Eulenburg aus Trondhjem: „Man kommt 
gar nicht zur Ruhe und ist von früh %8 bis abends 4212 beständig in 
Unruhe. Schon das gräßliche Turnen früh um 8 Uhr kann einen entsetzen! 
Gottlob ist S. M. entschieden ruhiger seit der Abreise bis auf einige kleine 
unbedeutende Ausbrüche. Er ist seit jener Krachgeschichte in Kiel von 
immer gleicher, rührend netter Zutraulichkeit und Rücksicht für mich. 
Ein kritischer Moment wird die Rückkehr zu der Kaiserin werden. Das ist 
eine ernste Frage, die für die Weiterentwicklung des Kaisers mit Gefahren 
verknüpft ist und von der guten Kaiserin aus Mangel an Verstand und 
Einsicht nicht gelöst werden wird.“ Der „Krach“ in Kiel hatte einige Tage 
vor dem Antritt der Nordlandreise die Nerven des armen Phili auf eine 
harte Probe gestellt. Die allmählich bei Seiner Majestät aufdämmernde 
Erkenntnis, daß es dem Feldmarschall Waldersee nicht mehr beschieden 
sein würde, große Schlachten zu gewinnen, ja daß Peking ohne ihn entsetzt 
werden könnte, hatte Seine Majestät nach der mir durch Eulenburg von 
dieser Szene gegebenen Schilderung völlig aus dem Gleichgewicht gebracht. 
Er hatte über Rußland und England, die ihn „verraten“ hätten, in den 
heftigsten Ausdrücken gesprochen, auch seine eigenen Ratgeber nicht ge- 
schont und schließlich von Eulenburg verlangt, er solle ihm ein Telegramm 
an das Auswärtige Amt aufsetzen, in dem er den sofortigen Abschluß eines 
Schutz- und Trutzbündnisses mit dem bisher von ihm verachteten und 
geschmähten Japan befehle. Nur mühsam war es Eulenburg gelungen, den 
Kaiser von diesem Gedanken abzubringen. 
Am 15. Juli 1900 meldete mir Philipp Eulenburg: „Gestern schrieb ich 
Dir, daß eine größere Ruhe eingetreten sei. Heute muß ich Dir schon mit- 
teilen, daß gestern abend wieder ein heftiger Ausbruch stattfand, der mich 
mit Sorgen erfüllt. Ich ging mit Seiner Majestät und Georg Hülsen auf 
Deck spazieren. Wir erzählten uns harmlose Theatergeschichten. Der Kaiser 
sprach vom ‚Publikum‘ im Theater und sprang auf die Berliner Gesell- 
schaft über, von dieser zu den Konservativen, Agrariern usw. Die Heftig- 
keit war geradezu erschreckend, und die Sorge, die ich Dir schon früher 
aussprach, er könne sich, mit allen alten preußischen Traditionen brechend,
	        
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