DIE BALANCIERSTANGE 463
würdige Träume —, Hohenlohe schnitte mir die Fußnägel!! Ich weigerte
mich lebhaft und begriff es nicht. ‚Sehen Sie denn nicht‘, sagte er, ‚daß
diese gekrümmte Lage mir jetzt die bequemste ist?‘ Dieser Unsinn wäre
wahrhaftig ein Vorbild für den Simplicissimus! Du wirst mir, wenn wir uns
wiedersehen, erzählen, wie die Wendung in Homburg kam, die Dich
plötzlich zum ersten Manne im Deutschen Reich machte. Es scheint in dem
Zwiegespräch zwischen Kaiser und Hohenlohe die Lösung etwas ‚Unab-
sichtliches‘ gehabt zu haben. Im Leben geht es bisweilen so zu. Ein Vetter
von mir machte in einem Hause einen Besuch mit der Absicht, der Mutter
anzudeuten, daß er die Tochter nicht heiraten könne. Als er aber davon zu
stammeln begann, schloß ihn die Mutter in die Arme und holte schnell die
Tochter. So war denn alles plötzlich anders gekommen, als er es sich ge-
dacht hatte! Wie schwer Du es haben wirst, mein geliebter Bernhard, das
spüre ich schon in den Zeitungsbemerkungen, die den ‚starken Mann‘ in
Dir ganz unverhüllt betonen zur Zügelung des armen lieben Herrn.
Deutschland befriedigen und den Kaiser nicht verletzen — das steht auf
Deiner Fahne. Gott wird Dir auf dem Seile, auf dem Du gehen mußt, die
Balancierstange halten — das ist meine Hoffnung und meine Zuversicht!
Daß Du als Entr&e Europa Dein Abkommen mit England vorsetztest, ist,
abgesehen davon, daß die Sache unvergleichlich an sich ist, ein Meister-
stück Deiner Taktik. Dein treuer alter Philipp.“
Eulenburg war, nachdem er sich in der Gunst des Kaisers festgestzt
hatte, eifrig und ehrlich bemüht gewesen, die Aufmerksamkeit Seiner
Majestät auf mich zu lenken. Er war überzeugt, daß ich dem Kaiser wie
dem Lande würde nützliche Dienste leisten können. Es war ihm auch er-
wünscht, einen Freund in einflußreicher Stellung zu haben. Und endlich
war er, wie ich auch heute noch überzeugt bin, von herzlicher Freundschaft
für mich erfüllt seit der Zeit, da ich ihm und seiner Familie in Paris näher-
getreten war. Er hatte gemeinsam mit seinem damaligen Intimus, späteren
Todfeind Holstein meine Ernennung zum Botschafter in Rom eifrig be-
trieben. Später hatte er alle Hebel in Bewegung gesetzt, damit ich, nicht
gerade zu meiner Freude, als Staatssekretär nach Berlin berufen wurde.
Meine Erhebung zum Reichskanzler dagegen entsprach weder seinen Er-
wartungen noch seinen intimeren Wünschen. Nicht als ob er mir gegenüber
gemeinen Neid empfunden hätte. Aber einmal war, wie ich von Lucanus
wußte, sein Kandidat für den Reichskanzlerposten der Fürst Hermann von
Hohenlohe-Langenburg, an dessen Stelle als Statthalter in Straßburg er
selbst zu treten wünschte. Straßburg blieb bis an das Ende seiner Laufbahn
das letzte Ziel seines Ehrgeizes. Und endlich fürchtete er wohl, daß ich als
Reichskanzler dem Kaiser persönlich näherkommen würde als er selbst
und daß er dadurch nach und nach für Seine Majestät entbehrlich werden