Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Erster Band. Vom Staatsseketariat bis zur Marokko-Krise. (1)

Sozialistische 
Interpellation 
468 WOEDTKES OPFERUNG 
besorgte er sehr heftige Angriffe von seiten der Sozialisten und ein Ab- 
rücken der Freisinnigen und namentlich des Zentrums von dem kompro- 
mittierten Staatssekretär. Ich sagte ihm sogleich, daß ich einen verdienten 
und hervorragenden Beamten wegen eines Vorfalles, bei dem es sich in keiner 
Weise um einen Mangel an Pflichttreue oder gar an Integrität handle, 
sondern höchstens um eine Unbesonnenheit, unter gar keinen Umständen 
im Stich lassen würde. Ich übernähme die Bürgschaft für eine richtige Be- 
urteilung der ganzen Angelegenheit durch Seine Majestät den Kaiser. Im 
Reichstag würde ich selbst für den Staatssekretär eintreten. Sichtlich be- 
ruhigt setzte mir Graf Posadowsky nunmehr auseinander, daß die Verant- 
wortung für die ganze Angelegenheit nicht eigentlich er selbst, sondern der 
Direktorim Reichsamt des Innern Dr. von Woedtke trage, der den General- 
sekretär des Zentralverbandes, Herrn Bueck, gebeten habe, die fragliche 
Summe von 12000 Mark zur Verfügung zu stellen. Wenn ich mir heute, 
mehr als zwei Jahrzehnte später, klarmache, daß dieser ganze Sturm wegen 
12000 Mark entstanden war, so wird mir recht deutlich, in welchem Zu- 
stand fast paradiesischer Unschuld wir uns im alten Deutschland be- 
fanden. Im Prozeß Erzberger handelte es sich um ganz andere Pudenda 
und um ganz andere Summen, und einer nicht geringen Anzahl Machthabern 
der Republik sind weit schlimmere Sünden vorgehalten worden als die 
Andeutung, daß 12000 Mark für Agitationszwecke der Regierung nicht 
unerwünscht sein würden. Aber wir lebten damals im Obrigkeitsstaat, 
dessen leitende Männer nicht die Rhinozeroshaut der Koryphäen des 
„Volksstaats‘“ besaßen und in puncto Ehrbarkeit und Integrität sogar 
sehr pointillös waren. 
Bevor er mich verließ, erbat Graf Posadowsky, nachdem er mir für mein 
freundschaftliches Entgegenkommen auf das wärmste gedankt hatte, die 
Erlaubnis, den Sachverhalt „in objektiver Weise“ in der Presse beleuchten 
zu lassen. Es geschah dies denn auch durch einen Artikel in der ministe- 
riellen „Berliner Korrespondenz“, in demes hieß: „Auf Anregung und durch 
Vermittlung des Direktors im Reichsamt des Innern Dr. von Woedtke 
hat der Generalsekretär Bueck eine Summe von 12000 Mark zur Ver- 
fügung gestellt. Diese ist zur Deckung der Kosten verwendet worden, die 
durch Druck und Verbreitung amtlichen Materials entstanden sind. Über 
die Verausgabung der Summe behufs Verbreitung des bezeichneten, in 
den Drucksachen des Reichstags bereits niedergelegten amtlichen Materials 
besitzt der genannte Beamte urkundliche Belege.“ 
Am 24. November fand im Reichstag die Verhandlung über die von 
sozialdemokratischer Seite eingebrachte Interpellation statt. Der sozialisti- 
sche Abgeordnete Auer begründete seine Anfrage in würdiger, maßvoller 
Form. Ignaz Auer war eines der sympathischsten Mitglieder der sozialisti-
	        
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