26 GRUNDLINIEN
Über einen Punkt war ich mir schon vor meiner Berufung nach Kiel im
klaren gewesen: daß Deutschland bei einem Krieg wenig zu gewinnen,
aber viel zu verlieren habe. Sollten wir nach Norden oder Süden, gen Osten
oder gen Westen Eroberungszüge unternehmen, um neue Ländergebiete
zu annektieren? Sollten wir kleinere Nachbarstaaten gewaltsam zum An-
schluß zwingen ? Sollten wir den alten Reichsfeinden neue hinzufügen ? Das
konnte kein klarblickender deutscher Patriot wünschen. Noch weniger
konnte dazu ein gewissenhafter deutscher Staatsmann raten. Um eine
banale französische Wendung zu gebrauchen, die aber hier den Nagel auf
den Kopf traf: Le jeu ne valait pas la chandelle. Ich war mir aber auch nicht
im Zweifel darüber, daß, wie die Kulisse des Welttheaters während der
letzten Jahrzehnte sich verschoben hatte, ein lokalisierter Krieg auf dem
europäischen Festlande kaum denkbar war, vielmehr jeder europäische
Konflikt die Gefahr in sich trug, sich in einen großen Krieg, in den Welt-
krieg zu verwandeln, mit dem furchtbaren Risiko eines solchen Krieges,
mit seinen unübersehbaren Möglichkeiten. Dagegen war jedes Jahr, wo wir
den Frieden in Ehren wahrten, ein Gewinn für uns. Unsere Volkszahl und
unsere wirtschaftliche Kraft nahmen mit jedem Jahr zu. Die Zeit ging für
uns, namentlich im Vergleich mit unserem gefährlichsten Nachbar, dem
Franzosen. Wie war der Friede zu erhalten, den das deutsche Volk
wünschte, den es für seine weiteren Fortschritte auf allen Gebieten brauchte ?
Die Antwort konnte nur lauten: niemanden provozieren, aber sich auch von
niemandem auf die Füße treten lassen. In letzterer Hinsicht mußten wir
des alten pommerschen Sprichwortes eingedenk bleiben, das Fürst Bis-
marck gern zitierte: „Wer sich grün macht, den fressen die Ziegen.“ Es war
klar, daß, wenn wir uns Eingriffe und Übergriffe anderer gefallen ließen,
auf die erste Rücksichtslosigkeit bald eine zweite, auf die erste Verletzung
unserer Rechte bald eine neue und ärgere folgen würden. Einstweilen und
bis den Bau der Welt Philosophie zusammenhält und bis sie dann ein
ideales, ganz gerechtes, alle Rechte schützendes und alle Interessen berück-
sichtigendes System errichtet und durchführt, wird ein Volk, das einmal
eine wirkliche und ernsthafte Verletzung seiner Interessen und seiner Ehre
hinnimmt, mit weiteren Verletzungen und Übergriffen zu rechnen haben.
Das Bild der internationalen Lage von 1897, wie ich es mir vor Augen
führte, zeigte neben manchen Lichtseiten auch ernste und tiefe Schatten.
Seit Anbeginn der deutschen Geschichte waren wir infolge unserer un-
günstigen geographischen Lage in der Mitte von Europa Angriffen mehr
ausgesetzt gewesen als irgendein anderes großes Volk. Eingekreist waren
wir, um mich einer von mir in meiner „Deutschen Politik“* später
* Fürst von Bülow, „Deutsche Politik“, Volksausgabe 1916, S.293.