Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Erster Band. Vom Staatsseketariat bis zur Marokko-Krise. (1)

WILHELM 11. SCHNEIDET HERTLING 479 
Am Abend nach meinem Empfang beim Prinzregenten folgte ich einer Ein- 
ladung des Grafen Crailsheim zur Soiree, bei der sich mir mit sichtlichem 
Empressement der Reichstagsabgeordnete Freiherr von Hertling näherte, 
den ich aus dem Reichstag kannte, mit dem ich aber noch nicht eingehender 
gesprochen hatte. Hertling hatte schon mit dem Staatssekretär von Mar- 
schall freundliche Beziehungen unterhalten. Marschall hatte sich sogar 
bemüht, die Vorurteile, die Wilhelm II. gegen Volksvertreter im allgemeinen 
und gegen Zentrumsabgeordnete im besonderen hegte, zu zerstreuen und 
wenigstens zu erreichen, daß Wilhelm II. sich den Freiherrn von Hertling 
vorstellen ließ. Zu diesem Zweck näherte sich Baron Marschall, begleitet 
von Hertling und dem bayrischen Gesandten Grafen Hugo Lerchenfeld, 
während eines Hofballs im Weißen Saal Seiner Majestät. Als der Kaiser 
Marschall, mit Lerchenfeld rechts von sich und einem bebrillten, nach 
einem Gelehrten aussehenden Herrn links, auf sich zukommen sah, ahnte 
er, was die drei im Schilde führten. Bebende und gewandt, wie er war, 
chassierte er durch den ganzen Saal vor den drei Herren weg, die ihn nicht 
zu erreichen vermochten, bis ihnen endlich, am Ende des Saals angelangt, 
eine kurze und ziemlich frostige Anrede zuteil wurde. Nicht mit Unrecht 
rät der ausgezeichnete Florentiner Geschichtsschreiber Francesco Guicciar- 
dini den Mächtigen, jeden Gegner, den man nicht sogleich und völlig zu 
vernichten vermöge, so zu behandeln, als ob er doch einmal ein Freund 
werden könnte, andererseits aber auch bei den besten Freunden nicht zu 
vergessen, daß im Wandel der Zeiten vielleicht Feinde aus ihnen werden 
würden. Als die Sonne Wilhelms II. sich zum Untergang neigte, appellierte 
er an denselben Hertling, den er achtzehn Jahre früher du haut en bas 
behandelt hatte, der aber inzwischen zum körperlich und geistig verkalkten 
Greis geworden war. Freiherr, später Graf Georg von Hertling entstammte 
dem Beamtenadel des Großherzogtums Hessen, und zwar dem streng 
katholischen Kreise, den in Darmstadt die Familien Biegeleben, Guaita, 
Hertling, Brentano, Schlosser e tutti quanti bildeten. Schon als Gym- 
nasiast hatte er auf einem katholischen Jugendtag einen Vortrag gehalten, 
der sich wie durch Beredsamkeit so durch streng katholische Weltanschau- 
ung auszeichnete. Als Student gehörte er einer katholischen Studenten- 
verbindung an. Nach seiner ganzen Richtung ausgesprochen österreichisch 
und großdeutsch gesinnt, habilitierte er sich trotzdem als Privatdozent in 
Bonn, wo er während des Kulturkampfes ungerechter- und törichterweise 
wegen seiner katholischen Richtung nicht zum Professor befördert wurde. 
In den Reichstag gewählt, zeigte er sich durch die ihm widerfahrene Be- 
handlung nicht verbittert, sondern gehörte zu denjenigen Zentrumsmit- 
gliedern, die gern bereit waren, mit der Regierung zu paktieren. Der geist- 
liche Berater und Beichtvater des Grafen Hertling war, auch während 
Freiherr 
von Hertling
	        
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