Freiherr
von Mirbach
und die
Berliner Stadt-
verordneten
500 DER OBERHOFMEISTER RÜGT DIE STADTVERORDNETEN '
solange der Reichstag beisammen sei, weder in Kiel noch anderswo Brand-
reden halte.
Mein Amtsvorgänger Fürst Chlodwig Hohenlohe beurteilte wie unsere
auswärtige Lage so auch die inneren Verhältnisse mit dem ihm eigenen Takt.
Er war erfüllt von aufrichtiger Verehrung für die Kaiserin Auguste Viktoria.
Als aber deren Oberhofmeister Freiherr von Mirbach, angeblich im Aller-
höchsten Auftrag, ein Schreiben an die Berliner Stadtverordneten richtete,
das nach Form und Inhalt als Nachmittagspredigt vielleicht am Platz ge-
wesen wäre, als politisches Schriftstück aber eine bedenkliche Entgleisung
war, schrieb mir Fürst Hohenlohe: „Wenn der Brief des Freiherrn von
Mirbach an die Stadtverordneten von Berlin auf Allerhöchster Weisung be-
ruht, so habe ich keine Bemerkung zu machen. In diesem Fall bitte ich,
meinen Brief in den Papierkorb zu werfen und ihn als non-avenu zu be-
trachten. Sollte aber derselbe der Initiative des Freiherrn von Mirbach
entsprungen sein, so ist die Sache sehr ernst. In diesem Fall würde ich an-
heimstellen, den Artikel zur Kenntnis Seiner Majestät zu bringen. Es kann
doch nicht geduldet werden, daß der erste Hofbeamte Ihre Majestät
in dieser Weise bloßstellt. Die Sache macht den übelsten Eindruck, was
um so bedauerlicher ist, als Ihre Majestät der Gegenstand allgemeiner
Verehrung ist.“
In dem Brief des Freiherrn von Mirbach war gesagt worden, Ihre Majestät
hoffe, daß es mit der Zeit den guten und treuen Elementen der Stadt-
verordnetenversammlung gelingen werde, neben der Förderung des äuße-
ren Blühens und Gedeihens auch an die vielen und tiefen inneren Schäden,
an denen die Reichshauptstadt kranke, die versöhnende und bessernde
Hand mit Erfolg anzulegen. Mit tiefem Schmerze habe Ihre Majestät davon
Kenntnis genommen, daß in der Stadtv 1 lung ein Mit-
glied, ohne in gebührender Weise zurechtgewiesen zu werden, heilige
biblische Trostworte in einer Weise zum Spott benutzt hätte, die jede gute
Sitte, vor allem aber das christliche Gefühl auf das tiefste verletzen müsse.
Der Stadtverordnete, dem diese böse Zensur erteilt wurde, war Dr. Preuß,
der achtzehn Jahre später die Mißgeburt der Weimarer Reichsverfassung
in die Welt setzen sollte. Fürst Chlodwig Hohenlohe hatte unzweifelhaft
darin recht, daß, wie man auch über Opportunität und Takt jener schnodd-
rigen Witzeleien des Dr. Hugo Preuß in der Stadtv
denken mochte, es unangebracht war, die Kaiserin in den politischen Streit
hineinzuzerren. Der gute Mirbach hat dies während meiner Amtszeit auch
nicht wieder versucht, sondern sich darauf beschränkt, mit unbegrenztem
Eifer die Berliner Kirchenbauten zu fördern, bis er auch in dieser Richtung
kaltgestellt werden mußte.
Wenn dem Oberhofmeister Mirbach der Sinn für das politisch Mögliche