Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Erster Band. Vom Staatsseketariat bis zur Marokko-Krise. (1)

ENGLAND-FRANKREICH? 513 
die sich Rußland auch ohne Englands Zustimmung jederzeit von selbst 
nehmen kann, oder solche, die Englands ganzes Prestige und ganze Herr- 
schaft im zentralen Südasien zu erschüttern geeignet sein und außerdem 
doch nur das Sprungbrett für weitere russische Forderungen bilden würden. 
Was sollte Rußland denn als Äquivalent an England gewähren? Nicht- 
Intervention gegen britische Einflußsphäre am Jangtse ? Eine solche Zusage 
würde Frankreich sehr verstimmen, andererseits aber belanglos sein, da 
Rußland sichtlich gar keine Intentionen hat, von Süden aus in die Jangtse- 
Frage sich einzumischen, und andererseits eine Einmischung von Norden 
her, sobald sie für Rußland ausführbar wird, wohl durch keinen Traktat 
der Welt würde gehemmt werden können. Rußlands und Englands Inter- 
essen sind zu gegensätzliche, um selbst eine nur zeitweise Überbrückung 
wahrscheinlich erscheinen zu lassen. Rußlands Stärke liegt darin, daß es 
keine Kolonien, sondern nur die Ausdehnung seiner eigenen Grenzen will. 
In verhältnismäßig kurzer Zeit hat sich diese Ausdehnung stark und stetig 
vollzogen; jede Verbesserung im Landtransport gegenüber dem verhältnis- 
mäßig doch immer schwerfällig bleibenden Seetransport erleichtert die 
Erreichung des Zieles. Hat Rußland weiter Geduld — und dies zu bezwei- 
feln liegt namentlich unter dem gegenwärtigen Zaren kein Grund vor —, 
so wird ihm sanft noch mehreres zufallen. Kaum fünfzig Jahre sind seit 
dem Krimkriege verflossen. Würde jetzt noch irgendeine Koalition gegen 
Rußland zustande zu bringen sein, wenn es die Hand nach Armenien, ja 
selbst nach dem Goldenen Horn ausstrecken wollte? Die Mandschurei fällt 
Rußland ohne Weiteres in den Schoß. Wird sich, falls es nach einiger Zeit 
aus Tschili hinübergreift, jemand finden, der ‚Halt!‘ ruft? Kaum. England 
ist gegenüber Rußlands Aspirationen eigentlich schon, was Asien anbetrifft, 
auf Indien und die Küstenstrecken eingeengt; im Innern Persiens und 
Chinas wird es kaum gegen Rußland kräftig agieren können. Ein anglo- 
französisches Bündnis ist an sich nicht undenkbar. Die Spitze eines solchen 
würde französischerseits gegen uns, englischerseits gegen Rußland gerichtet 
sein. Uns allein abzurasieren unter gleichzeitigem Hochkommen Frankreichs 
und Rußlands, daran hat England kein Interesse. Andererseits kann es 
Frankreich nicht erwünscht sein, Deutschland und Rußland zu schwächen 
und sich dann alleinstehend England gegenüber zu sehen. Immerhin ist 
natürlich die Gefahr, die ein solches Bündnis für uns in sich schließen würde, 
nicht zu übersehen und cin Grund mehr für uns, mit England auf gutem 
Fuß zu bleiben. Wir sind und bleiben schließlich für England immer der 
bequemste Anhalt. Mit unserer Macht absorbieren wir so viele russische 
und französische Streitkräfte, daß dadurch Rußland und Frankreich von 
abenteuerlichen Unternehmungen, die sich hier oder dort gegen England 
richten würden, abgehalten werden und damit der englische Machtstand 
3% BülowI
	        
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