Für Miquel
Rheinbaben
522 EINE UNERWARTETE ERÖFFNUNG
sich die Zeiten inzwischen erheblich geändert hatten. Die Gegner der Kanal-
projekte hatten sehr unrecht, wenn sie aus übertriebener Furcht vor der
Einführung fremdländischen Getreides, aus agrarischer Eifersucht gegen
die Industrie und bis zu einem gewissen Grade aus Eifersucht des Ostelbiers
auf den reicheren Westen den Bau neuer Kanäle zu verhindern trachteten.
Ich hatte, alsich mich am 9. Januar 1901* dem Preußischen Abgeordneten-
haus als Ministerpräsident vorstellte, alle Teile des Hauses vor Kurz-
sichtigkeit und Selbstsucht gewarnt. Ich hatte zur Einigkeit aufgefordert
zwischen dem Westen mit seiner alten Kultur, seiner mächtig entwickelten
Industrie, seiner Regsamkeit und seinen Hilfsquellen und dem Osten, der
Wiege der preußischen Monarchie, der unserem Beamtentum und unserer
Armee seinen starken, seinen großen Stempel aufgedrückt hat. Als ich die
Wohlfahrt der gesamten Volkswirtschaft, das Wohl der ganzen Monarchie
als meinen Leitstern bezeichnete, fand ich einen in diesem Hause seltenen
stürmischen Beifall. Aber als es sich darum handelte, vom Bravorufen und
Händeklatschen zu Taten überzugehen, hörte die Begeisterung auf. Die
Beratungen in der Kommission rückten nicht vorwärts, das Feilschen nahm
kein Ende. Es blieb nichts anderes übrig, als die ganze Frage auf ein anderes
Geleise zu schieben. In einer von mir zu diesem Zweck angesetzten Sitzung
des Staatsministeriums führte ich aus, daß dem grausamen Spiel in der
Kanalfrage ein Ende gemacht werden müsse. Selbst für den Fall, daß das
Herrenhaus die im Abgeordnetenhaus verstümmelte Vorlage wiederher-
stellen sollte, was nicht einmal sicher sei, könne im Abgeordnetenhaus mit
einiger Sicherheit nur auf die Annahme eines Teils des Mittellandkanals
gerechnet werden. Unter solchen Umständen hätteich von Seiner Majestät die
Zustimmung zur Schließung des Landtagserbeten underhalten. Imausdrück-
lichen Auftrage Seiner Majestät hätte ich allen beteiligten Ministern, na-
mentlich dem Herrn Vizepräsidenten von Miquel, die Allerhöchste Aner-
kennung für die vortreffliche Vertretung der Kanalvorlage auszusprechen.
Diese unerwartete Eröffnung wirkte auf meine Herren Kollegen in ver-
schiedenartiger Weise. Der Landwirtschaftsminister von Hammerstein und
der Handelsminister Brefeld, die Übles ahnten, ließen die Köpfe hängen.
Der arme Miquel war wie vom Schlage getroffen. Begeisterte Zustimmung
fand ich beim Grafen Posadowsky, der in Miquel einen Mitbewerber um
den Kanzlerposten sah und ihn haßte. Auch Tirpitz war vergnügt. Er
mochte Miquel nicht und behauptete, dieser gliche ausschweifenden Men-
schen, die, nachdem sie alle Genüsse erschöpft hätten, im hohen Alter auf
Perversitäten verfielen. So habe Miquel allmäblich vom marxistischen
Kommunismus bis zum scharfen Konservativismus die Freuden aller
* Fürst Bülows Reden, Große Ausgabe I, S. 176; Kleine Ausgabe I, S. 234.