Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Erster Band. Vom Staatsseketariat bis zur Marokko-Krise. (1)

Der Bund 
der Landwirte 
532 EXTREME AGRARIER 
Charmeur nennt. Wie er kein hinrcißender Redner war, vielmehr trocken 
und mit kaum verständlicher Stimme sprach, so fehlte ihm auch im per- 
sönlichen Verkehr das Gewinnende. Aber er war ein durch und durch ehren- 
hafter Mann, von hervorragender Pflichttreue und Gewissenhaftigkeit, 
dazu ein ausgezeichneter Jurist. Er hatte auch zu lange der näheren Um- 
gebung von Windthorst angehört, um nicht zu wissen, daß die Politik die 
Kunst des Möglichen ist und daß hinsichtlich der Mittel, durch die das 
grundsätzlich festgestellte Ziel erreicht werden soll, nicht ohne einen ge- 
wissen Opportunismus Erfolge erzielt werden können. Gewiß gab es in der 
Zentrumsfraktion auch unbedeutende, ja einfältige Mitglieder, aber die 
Partei als solche hatte doch einen Hauch des Geistes verspürt, der seit 
Jahrhunderten die Stärke und den Erfolg der Politik der römischen Kurie 
ausmacht. Die Nationalliberalen zeigten gegenüber dem Zolltarif die zwei 
Seelen, die nach einem bekannten Scherz von Eugen Richter in ihrer Brust 
wohnten: Die Mehrheit wünschte mit der Schwerindustrie möglichst hohe 
Zölle, die Minderheit neigte zum Asphalt-Liberalismus der Freisinnigen. 
Es war das hohe Verdienst des Abgeordneten Bassermann, daß er trotz 
einiger kleiner Schwankungen unter Absplitterung von einer oder zwei 
Stimmen die Partei auf der richtigen Linie hielt. 
Das Gros der Konservativen, darunter Graf Hans Kanitz und Graf von 
Schwerin-Löwitz, zwei gleich patriotische und gleich einsichtige Männer, 
stand mir treu zur Seite. Der Bund der Landwirte aber glich den Kindern, 
die schreien, um noch mehr Pflaumen zu bekommen, auf die Gefahr hin, 
sich gründlich den Magen zu verderben. Der verständigste in ihren Reihen 
war der Vorsitzende des Bundes, der Freiherr Konrad von Wangenheim, 
ein aufrechter Mann und nobler Charakter. Bei Dr. Gustav Roesicke über- 
wog der parteipolitische Gesichtspunkt schon in bedenklichem Grade. Der 
Bruder dieses Agrarierhäuptlings gehörte gleichfalls dem Reichstag an, 
hatte sich aber der Freisinnigen Volkspartei angeschlossen. Beide Klopf- 
fechternaturen. Das galt erst recht von Dietrich Hahn, der sich vom Be- 
amten der Deutschen Bank zum Wanderredner des Bundes der Landwirte, 
vom ausgesprochenen Freihändler zum outrierten Agrarier entwickelt 
hatte. 
Lord Beaconsfield hat einmal geäußert, daß ohne gelegentliche Intrigen ein 
Staatsmann kaum größere Erfolge erzielen könne. Bismarck drückte den glei- 
chen Gedanken mit den Worten aus: „Nur die Dummen wissen nicht, wie es 
gemacht wird.“ Eskam mirvor allem daraufan,daß dieextremen Agrarier mit 
ihrem Unverstand nicht meine guten Absichten für die Landwirtschaft ver- 
eitelten. Zu diesem Zweck mußten sie in die Defensive gedrängt, d. h. ge- 
zwungen werden, sich gegen den Vorwurf zu verteidigen, viel zu viel zu ver- 
langen. Sie durften nicht in der Lage sein, auch nur mit einem Schein von
	        
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