536 DIE QUEEN UND JOHN BROWN
waren, den ihr eben angetrauten Mann unter den Arm genommen und mit
einer energischen Bewegung zum Eisenbahncoupe geführt. „So hat sie ihn
durch das ganze Leben dirigiert“, fügte Schweinitz hinzu. Es wäre unge-
recht, nicht hinzuzufügen, daß die Kronprinzessin intellektuell ihrem Mann
überlegen war, daß sie weitere Horizonte hatte, weniger Hemmungen, eine
raschere Auffassung, eine größere Beweglichkeit des Geistes. Aber obwohl
sie ihren Mann zärtlich liebte, hat sie, solange dieser lebte, seine herrlichen
Eigenschaften, die Lauterkeit seines Wesens, seine Reinheit, seine Ritter-
lichkeit, seine vollkommene Furchtlosigkeit, seine Gewissenhaftigkeit und
Pflichttreue, seine rührende Herzensgüte nicht so gewürdigt, wie sie dies
hätte tun sollen.
Ich möchte schon hier sagen, daß alles, was über eine Neigung der Kron-
prinzessin für ihren Kammerherrn, den Grafen Goetz Seckendorff, ge-
tuschelt wurde, alberner, völlig unbegründeter Klatsch ist. Die Stellung
Seckendorffs am kronprinzlichen Hofe beruhte zum kleineren Teil darauf,
daß er sich schr gut auf Haushaltung, Arrangement im Hause, auf Einkäufe
von Antiquitäten verstand, auch allerhand dilettantische Liebhabereien
der Kronprinzessin für Aquarellieren, Gartenkunst u.ä. teilte. Zum größeren
Teil lag das Geheimnis seines Einflusses in der rücksichtslosen, ungenierten
Art, mit der er seiner hohen Gebieterin widersprach, was ihm als Aufrichtig-
keit und wahre Treue ausgelegt wurde. Ganz ähnlich stand es zwischen der
Königin Victoria und dem Leibjäger ihres verewigten, von ihr innig ge-
liebten Gemahls, dem Schotten Brown. Der grobe Freimut, den dieser
biedere Landsmann von Walter Scott immer und überall an den Tag legte,
bürgte Ihrer Majestät nur für seine unbedingte Zuverlässigkeit. Der Leibarzt
der Königin, der von ihr nach Rumänien geschickt worden war, um die
damalige Maria von Rumänien zu entbinden, erzählte mir, als wir uns in
Sinaja begegneten, wo wir viel zusammen spazierengingen, er seiin London
zugegen gewesen, als die Königin nach einem Besuch bei ihrer Schwieger-
tochter, der Herzogin von Connaught, in ihren Wagen stieg. Hinten auf
dem Bock saß John Brown. Die Königin fragte nach ihrem Schal. John
Brown entgegnete ihr, sie säße ja auf ihrem Schal, und fügte brummend
hinzu, aus Zerstreutheit würde Ihre Majestät wohl nächstens ihren Kopf
verlieren. Ruhig und milde entgegnete die Königin: „You are very right.
I am a poor widow, who lost her dear beloved husband and who feels very
helpless.““ Vollends die Behauptung, die Kaiserin Friedrich habe sich nach
dem Tode ihres Gemahls mit dem Grafen Seckendorff heimlich vermählt,
ist eine der albernsten Lügen, die je verbreitet wurden. Der Kammerherr
Graf Götz von Seckendorff gehörte einer alten fränkischen Familie an, von
der ein Zweig im achtzehnten Jahrhundert über Ansbach und Bayreuth
nach Preußen gekommen war. Der berühmteste Sohn des Geschlechts war