Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Erster Band. Vom Staatsseketariat bis zur Marokko-Krise. (1)

Bericht 
des Grafen 
Metternich 
558 CASTRO 
eintreiben wollten. Als die Regierung von Venezuela fortdauernd ablehnte, 
ihre Verpflichtungen zu erfüllen, wurden der deutsche und der englische 
Vertreter abberufen, deutsche und englische Boote nahmen die venezola- 
nische „Flotte“, vier kleine Dampfer, in La Guaira weg, ein deutscher und 
ein englischer Kreuzer zerstörten ein Fort bei Puerto Cabello. Als Deutsch- 
land und England einige Tage später die Blockade von La Guaira be- 
gannen, akzeptierte der Präsident von Venezuela, Herr Castro, ein unge- 
wöhnlich übler Bursche, das von mir in Vorschlag gebrachte Schieds- 
gericht des Haager Gerichtshofes. Die deutsche und die englische Regie- 
rung handelten bei diesem Zwischenfall in vollem Einverständnis, mit 
voller Loyalität und mit großem Takt. In der englischen Presse erhoben 
sich jedoch scharfe, zum Teil wüste Proteste gegen jedes Zusammengehen 
mit Deutschland. Die „Times“ erklärte ein solches für unmöglich, da sich 
zwar nicht die deutsche Regierung, aber, was viel schlimmer wäre, das 
deutsche Volk im Burenkrieg als ärgster Feind Englands gezeigt habe. Der 
englische Dichter Rudyard Kipling, ein sehr begabter Poet, für dessen 
pittoreske Schilderungen indischer Natur und indischen Lebens, nebenbei 
gesagt, Kaiser Wilhelm II. schwärmte, der aber starke demagogische 
Instinkte hatte und dessen Hauptbestreben es war, dem „man in the 
street‘ zu gefallen, veröffentlichte scharf geschliffene, sehr perfide Verse 
gegen eine Kooperation von Deutschland und England, wäre es auch nur 
in Venezuela. 
Darüber schrieb mir unser neuer Botschafter in London, Graf Metter- 
nich, der an die Stelle des am 22. November 1901 verstorbenen Grafen 
Paul Hatzfeldt getreten war: „Die Venezuela-Affäre lehrt, daß der während 
des Burenkrieges hier gegen das deutsche Volk gesammelte Unwille vor- 
läufig noch stärker ist als die Vernunft und das eigene Interesse der Eng- 
länder. Die Verblendung, die sich während des Burenkriegs der öffentlichen 
Meinung bei uns bemächtigt hatte, ist jetzt über den Kanal gezogen. Auf 
der anderen Seite bewährt sich die englische Regierung, die sich durch das 
Zusammengehen mit Deutschland entschieden unbeliebt machte, nicht 
schlecht. Lord Lansdowne verurteilte scharf das Gedicht von Rudyard 
Kipling in der heutigen ‚Times‘. In Zeiten großer Spannung der öffent- 
lichen Meinung ist es aber, besonders in England, schwer, auf die großen 
unabhängigen Preßorgane, die sich selbst dem Einfluß der englischen Re- 
gierung entziehen, einzuwirken. Die englische Presse war nie so feindselig 
gegen uns als im vergangenen Jahr, wo bis vor kurzem Eckardstein, der 
Minister der Preßbeziehungen, noch hier wirkte. Ich bin weit entfernt da- 
von, ihm hieraus den Vorwurf machen zu wollen, daß er es an Diligentia 
hat fehlen lassen. Niemand würde dies haben’ändern können, außer wenn 
sich die beiden Regierungen seit Jahr und Tag weniger in den Haaren
	        
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