Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Erster Band. Vom Staatsseketariat bis zur Marokko-Krise. (1)

DIE EXTRATOUR 579 
sein, daß die italienischen Politiker schon lange bevor Fürst Bismarck 
einmal öffentlich sagte, Regierungen und Minister könnten Bündnisverträge 
nur so lange halten, als dies durch die Lebensinteressen des eigenen Staates 
geboten wäre, ihr politisches Verhalten nach diesem Axiom einzurichten 
gewohnt waren. Als während eines kurzen Aufenthalts, den ich im Früh- 
jahr 1902 in Venedig genommen hatte, der italienische Minister des Äußern, 
Herr Prinetti, der mich dort aufsuchte, wegen einzelner Abänderungen 
des Dreibundvertrages lebhaft in mich drang, stellte ich mich ihm gegen- 
über auf den Standpunkt, den im 18. Jahrhundert der Jesuitengeneral 
eingenommen hatte, als man von ihm eine Reform des Ordens verlangte: 
„Sint ut sunt aut non sint.“ 
In derselben Rede, in der ich mich gegen die Edinburger Rede des Herrn 
Chamberlain wenden mußte, hatte ich offen ausgesprochen, daß der Drei- 
bund ein nützliches Bindemittel für drei Staaten wäre, die durch ihre 
geographische Lage und ihre historischen Traditionen darauf angewiesen 
seien, gute Nachbarschaft zu halten, daß ihm andererseits alle angriffs- und 
kriegslustigen Absichten fernlägen, daß er den Gefühlen und Erinnerungen 
des deutschen Volks entspräche, daß er aber für Deutschland keine absolute 
Notwendigkeit wäre. Diese meine Wendung beunruhigte den ehrwürdigen 
Kaiser Franz Josef, sie ärgerte die Wiener Generalstäbler und die ungari- 
schen Chauvinisten. Der arme Phili Eulenburg, der sogleich die Nerven 
verlor, richtete einen larmoyanten Brief an mich, in dem es hieß, Go- 
luchowski sei „fassungslos“, Kaiser Franz Josef „schwer pikiert“, ganz 
Österreich „tief verstimmt‘. Die Wirkung meiner Rede war aber, daß man 
sich in Wien beeilte, eine unveränderte Erneuerung des Dreibundes bereit- 
willig zu akzeptieren. Alt-Österreich gehörte zu den Pferden, bei denen, 
wer sie reiten will, ab und zu die Kandare anziehen muß. Gegenüber 
Italien brauchte ich die oft zitierte Wendung: „In einer glücklichen Ehe 
muß der Gatte nicht gleich einen roten Kopf kriegen, wenn seine Frau 
einmal mit einem anderen eine unschuldige Extratour tanzt. Die Haupt- 
sache ist, daß sie ihm nicht durchgeht, und sie wird ihm nicht durchgehen, 
wenn sie es bei ihm am besten hat.‘ Ich wußte sehr wohl, daß die italie- 
nische Diplomatie am Dreibund festzuhalten, aber gleichzeitig sich für den 
Fall, daß Italien einmal nach Tripolis seine Hand ausstrecken sollte, gegen 
französische Opposition zu sichern wünschte. Sie wollte sich überhaupt 
möglichst alle Wege offenhalten. Ich wußte auch, daß Italien, darin tat- 
sächlich wie manche schöne Frauen, am ehesten treu blieb, wenn ihm 
gegenüber alles vermieden wurde, was nach scharfem Zwang oder gar zu 
enger Bindung aussah. Ich war immer der Ansicht, daß es weniger auf den 
Buchstaben ankomme als auf den Geist, nicht auf diesen oder jenen Einzel- 
punkt, sondern auf die Gesamtpolitik. Am 28. Juni 1902 wurde der Drei- 
378.
	        
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