Swinemünder
Telegramm
an den
Prinzregenten
Luitpold
582 WILIELM II. HÄLT GOTTESDIENST
wir in Reval weilten, wurde der Gouverneur von Charkow durch ein
Attentat verwundet. In einem vertraulichen Bericht aus Kiew las ich schon
damals, daß ein angeschener israelitischer Bürger der Dnjepr-Stadt gesagt
hatte: „Wir schaffen’s, wir machen’s! Wir haben die Organisation, wir
haben das Geld. Wir werden trotz aller Pogrome die Herren von Ruß-
land.“ Jedenfalls lag auf der Hand, daß es im russischen Faß bedenklich
gärte.
Auf der Rückreise von Reval, am 10. August 1902, einem Sonntag,
traf die „Hohenzollern“ wieder in Swinemünde ein. Ich wohnte dem vom
Kaiser abgehaltenen Gottesdienst bei. Die vielfach verbreitete Meinung,
der Kaiser hätte bei Schiflsgottesdiensten aus eigener Inspiration gepredigt,
ist falsch. Der Kaiser verlas bei diesen Anlässen eine Predigt, die ihm von
einem der Hofgeistlichen, ich glaube, es war der Pastor Keßler, verfaßt
worden war. Er machte auch gar kein Hehl daraus, daß es die Predigt
eines anderen wäre, die er verlese. Auf englischen Schiffen hält der Kapitän
am Sonntag mit der Mannschaft einen Gottesdienst ab. Daß der Kaiser
diesen Brauch bei uns einführte, konnte ihm in keiner Weise verübelt
werden. Ich nahm dann an der kaiserlichen Mittagstafel teil und kehrte
unmittelbar nach deren Aufhebung nach Berlin zurück.
Dort wieder eingetroffen, las ich mit nicht geringem Erstaunen in den
Zeitungen ein Telegramm, das Wilhelm II. aus Swinemünde sofort nach
meiner Abreise an den Prinzregenten von Bayern gerichtet hatte. In
München hatte die Zentrumsmehrheit der Zweiten Kammer, um das
Ministerium Crailsheim zu ärgern, das ihr nicht alle selbstsüchtigen
Parteiwünsche erfüllen wollte und konnte, Abstreichungen am bayrischen
Kultusetat vorgenommen. Dieses Votum richtete seine Spitze offensichtlich
gegen den Prinzregenten, da es Ankäufe für Staatsgalerien, für die sich der
alte Herr bereits persönlich engagiert hatte, unmöglich machte. In seinem
Telegramm an den Prinzregenten sprach der Kaiser seine tiefste „Ent-
rüstung“ über die Ablehnung der von der bayrischen Regierung für Kunst-
zwecke geforderten Summe aus. Er gab seiner „Empörung“ über diese
„schnöde Undankbarkeit“ Ausdruck und stellte dem Prinzregenten die
Summe zur Verfügung, die ihm seine Klerikalen gestrichen hatten, damit
erin der Lage sei, die Aufgaben „im vollsten Maße“ zu erfüllen, die er sich
auf dem Gebiet der Kunst gestellt hätte. In einer von Crailsheim redi-
gierten höflichen, aber kühlen Antwort dankte der Prinzregent dem Kaiser
für sein warmes Interesse an künstlerischen Bestrebungen. Er freue sich,
dem Kaiser mitteilen zu können, daß durch den Edelsinn eines seiner
Reichsräte die bayrische Regierung in die Lage versetzt sei, getreu den
Wittelsbachschen Traditionen die Kunst weiter unentwegt zu pflegen. Es
handelte sich übrigens nur um den verhältnismäßig geringfügigen Betrag