Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Erster Band. Vom Staatsseketariat bis zur Marokko-Krise. (1)

Reichstags- 
präsident 
Graf 
Ballestrem 
592 PREUSSE UND KATHOLIK 
zustande zu bringen, mit denen Industrie und Handel einen glänzen- 
den Aufschwung nahmen, Herr Gothein seinen Irrtum eingesehen oder gar 
eingestanden hätte. Allerdings erklärten andererseits bei der Annahme des 
Zolltarifs die Führer des Bundes der Landwirte mit Emphase, daß wir 
nunmehr vor dem Grabe der Landwirtschaft stünden, was sie nicht ver- 
hindert hat, kaum zehn Jahre später im Wahlkampf zu versichern, die 
Behauptung, daß die Landwirtschaft mit dem Zolltarif von 1902 nicht zu- 
frieden sei, wäre eine perfide Verleumdung der Manchester-Leute. „‚Tutto il 
monde & pacsc“, sagt das italienische Sprichwort. Das heißt ins Deutsche 
übersetzt: „‚Unsre Parteien haben sich hinsichtlich ihrer Kampfesweise, ihrer 
Selbstsucht und ihrer Unwahrhaftigkeit gegenseitig nicht viel vorzuwerfen.“ 
Während der nächsten Wochen waren die Sozialisten eifrig bemüht, in 
beständigen, von ihnen herbeigeführten namentlichen Abstimmungen die 
Verhandlungen zu verschleppen. Ich fühlte die Notwendigkeit, einzugreifen, 
und suchte zu diesem Zweck den Präsidenten des Reichstags, Grafen 
Ballestrem, auf. Graf Franz Ballestrem war ein prächtiger Mann. Sein Ahn 
war unter Friedrich dem Großen aus Piemont nach Preußen gekommen, 
war als Husarenrittmeister in die Armee des großen Königs eingetreten 
und hatte dann durch Heirat mit einem Fräulein von Stechow großen 
Grundbesitz in Oberschlesien erworben. Unser Reichstagspräsident war 
ein strammer Preuße und dabei ein gläubiger Katholik. Er hatte viele Jahre 
bei den Breslauer Leibkürassieren gestanden. Das war ein wackeres Regi- 
ment, zu dessen Offizierkorps nach dem siegreichen Feldzug von 1866 der 
alte König Wilhelm gesagt hatte: „Sie sind die Herren, auf die ich mich 
verlasse.“ Ballestrem war stolz darauf, die Uniform dieses Regiments zu 
tragen, in dessen Reihen er sich 1866 und 1870 ausgezeichnet hatte. Er 
hatte einen schlagenden Mutterwitz. Nach einem Liebesmahl richtete ein- 
mal im Kasino der Leibkürassiere ein etwas angetrunkener Kamerad an ibn 
die taktlose Frage, wie er als Katholik über das Duell denke. Ballestrem 
erwiderte, daß er mit seiner Kirche das Duell verwerfe. „Was würden Sie 
denn tun“, frug der andere weiter, „wenn ich Sie beleidigte ?‘“ Ballestrem 
antwortete ruhig und mit einer entsprechenden Handbewegung: „Ver- 
suchen Sie es doch einmal!“ Diesen ausgezeichneten Mann fand ich, als 
ich ihn behufs Besprechung der parlamentarischen Lage in seiner Wohnung 
aufsuchte, um halb eins vor einer großen Flasche Champagner. Als ich mit 
einiger Verwunderung auf ihn blickte, meinte Ballestrem: „Bevor ich dem 
Reichstag präsidiere, trinke ich immer eine Pulle Sekt, das bringt mich in 
die richtige Stimmung.“ Er war durchaus damit einverstanden, daß, wie 
dies Herr von Kardorff und andere Konservative angeregt hatten, durch 
einen von einem Zentrumsabgeordneten einzubringenden Antrag der 
Abstimmungsmodus abgekürzt werden sollte.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.