Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Erster Band. Vom Staatsseketariat bis zur Marokko-Krise. (1)

Beabsichtigte 
Erhebung zum 
Fürsten 
Bülow 
594 DIE ACHTSTUNDENREDE 
liberale Abgeordnete Sattler den Nagel auf den Kopf, als er in seiner Rede 
den Antrag Kardorff als einen Akt der Notwehr bezeichnete, da die Sozial- 
demokraten die Geschäftsordnung nur zur Geschäftshinderung benutzten. 
Am 13. Dezember begann um 10 Uhr vormittags die längste Sitzung des 
Reichstags, der ich beigewohnt habe, eine neunzehnstündige Sitzung. Ich 
mußte dreimal das Wort ergreifen. Zuerst um die Stellungnahme der ver- 
bündeten Regierungen zu den in der zweiten Lesung gefaßten Beschlüssen 
klarzulegen hinsichtlich einer gebesserten und gesicherten Fürsorge für die 
Hinterbliebenen der arbeitenden Klassen wie insbesondere für die spätere 
Einführung einer Witwen- und Waisenversorgung: dann hinsichtlich der 
Mindestzölle für Pferde, Vieh und Fleisch, für Roggen, Weizen und Hafer 
und endlich hinsichtlich des vielumstrittenen Mindestzollsatzes von 
4 Mark für Malzgerste unter Wegfall eines anderen Zolls für andere Gerste. 
Ich forderte den Reichstag auf, nunmehr dem großen Werk der Tarifreform 
zum Segen des Vaterlandes Vollendung und Abschluß zu sichern. Als mich 
bei den Worten „zum Segen des Vaterlandes“ die Sozialdemokraten lär- 
mend unterbrachen, wiederholte ich mit erhobener Stimme den Schluß 
meiner Ausführungen. Der Abgeordnete Barth hatte einige Tage vorber in 
einem ihm nahestehenden Blatt erklärt, nur ein Reichskanzler von der 
Unwissenheit und Beschränktheit des Grafen Bülow könne sich einbilden, 
daß die Zolltarifvorlage jemals zustande kommen werde. Während der 
dritten Lesung der Vorlage erklärte er mit großem Aplomb, mit diesem 
Tarif seien Handelsverträge unmöglich. Ich erwiderte ihm, ich sei ein vor- 
sichtiger Mann, möchte aber doch der Meinung Ausdruck geben, daß die 
Prophezeiungen des Herrn Abgeordneten Barth sowohl hinsichtlich der 
Tarifvorlagen wie hinsichtlich der Handelsverträge sich nicht bewahrheiten 
würden. Unter den Obstruktionsrednern der Sozialdemokratie zeichnete 
sich der Abgeordnete Antrick aus, der acht Stunden, von 4% bis 12%, 
gegen den Tarif donnerte. Als er zu Ende war, klopfte ihm Bebel mit 
väterlichem Wohlgefallen auf die Schulter. Nicht lange nachher ließ August 
Bebel, der, wie man aus den hübschen und interessanten „Memoiren einer 
Sozialistin‘“ von Lily Braun ersehen kann, in puncto Moral streng dachte, 
Herrn Antrick aus der sozialdemokratischen Partei ausschließen, weil er 
mit der Frau eines Parteigenossen „al tempo de’ dolei sospiri‘“ die Sünde 
begangen hatte, die Francesca und Paolo bei Dante im Inferno büßen 
müssen. Die Sitzung schloß um 5 Uhr morgens. Ich hatte den Reichstag 
während dieser Zeit nicht verlassen. 
Am nächsten Tag erhielt ich von Seiner Majestät ein Telegramm, in dem 
er mir „von Herzen‘ dankte, meinen „staatsmännischen Blick‘, meine 
„Geduld“ und mein „Geschick“ pries und mir mitteilte, daß er mich in den 
Fürstenstand erhoben hätte. Obwohl einigermaßen müde, denn ich hatte
	        
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