Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Erster Band. Vom Staatsseketariat bis zur Marokko-Krise. (1)

598 „ICH WÜNSCHE IHNEN EINEN MILLERANDI“ 
zeichnung begründete Verantwortlichkeit des Kanzlers sich nach unserer 
Verfassung nicht auf persönliche Kundgebungen des Monarchen cerstrecke. 
Das Recht der freien Meinungsäußerung stehe dem Kaiser wie jedem 
Staatsbürger zu. Ich nähme aber keinen Anstand, vor dem Lande zu sagen, 
daß ein gewissenhafter, ein seiner moralischen Verantwortlichkeit sich 
bewußter Reichskanzler nicht würde im Amt bleiben können, wenn er 
Dinge nicht verhindern könnte, die nach seinem pflichtmäßigen Ermessen 
das Wohl des Reichs wirklich und dauernd schädigen würden. Ich wisse sehr 
wohl, daß ich dem Bundesrat wie dem Reichstage verantwortlich sei für eine 
Führung der Geschäfte, die weder den äußeren noch den inneren Frieden 
des Reichs gefährde. Ich betonte endlich gegenüber Herrn Schädler, daß 
die Kaiseridee dem deutschen Volk kein bloß formaler Begriff wäre, denn 
sie verkörpere die teuersten Erinnerungen des deutschen Volkes, unser 
Ansehen nach außen, unsere Zukunft in der Welt. Als am folgenden Tage 
der Vertreter gemäßigter Anschauungen im sozialdemokratischen Lager, 
der Abgeordnete von Vollmar, dem Kaiser und der Monarchie antisoziale 
Tendenzen vorwarf, war es mir leicht, unter Hinweis auf die kaiserliche 
Botschaft vom 17. November 1881 und unsere soziale Gesetzgebung, ins- 
besondere die Arbeiterversicherung, diese völlig unbegründete Anschuldi- 
gung zurückzuweisen. Die deutsche Monarchie hat in der Tat viel, sehr viel 
mehr für die Arbeiter getan als die französische Republik. Bei diesem Anlaß. 
erwähnte ich, daß unser Botschafter in Paris, Fürst Radolin über Millerand 
neulich berichtet hätte: „Millerand verfolgt energisch die Hebung der 
unteren Klassen, wozu die Bourgeoisie nicht allzu geneigt ist.“ Als ich diese 
Stelle aus dem Pariser Botschaftsbericht verlas, riefen mir die Sozialdemo- 
kraten zu: „Wie bei uns!“ Ich faßte den Stier bei den Hörnern und ent- 
gegnete sogleich: „Dieser Zwischenruf frappiert mich. Was Sie mir zurufen, 
ist nämlich wörtlich dasselbe, was unser Kaiser an den Rand jenes Pariser 
Botschaftsberichtes geschrieben hat.“ Die Sozialdemokraten machten 
lange Gesichter. Ich las aus dem Radolinschen Bericht weiter vor: „Herr 
Millerand ist weit davon entfernt, die Staatsgewalt zu erschüttern.‘“ Zu 
den Sozialdemokraten gewandt, fügte ich hinzu: „Meine Herren, ich 
wünsche Ihnen einen Millerand!“ Am Schluß meiner Rede betonte ich 
noch einmal, daß ein Reichskanzler, der diesen Namen verdiene, der ein 
Mann und nicht ein altes Weib sei, nichts vertreten werde, was er nicht 
pflichtgemäß vor seinem Gewissen verantworten könne. Ein nur ausführen- 
des Organ, ein Instrument sei der Reichskanzler nicht. Das würde weder den 
Wünschen des Kaisers entsprechen noch den Interessen des deutschen 
Volkes. 
Die Sozialdemokratie, die nach unserem Niederbruch nicht Worte genug 
finden konnte, um die von der alten Regierung gegenüber England geführte
	        
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