EIN SCHWIMMENDES SCHAUSPIELHAUS 617
wäre eine von dem Historiker Oncken verfaßte Schrift: „Die Flucht des
Prinzen von Preußen nach England 1848‘, abends vorgelesen worden,
was bei dem Kaiser einen Ausbruch „pathologischer Heftigkeit‘“ hervor-
gerufen hätte. Er habe die kommende Revolution und ihre Niederwerfung
geschildert. Er habe Rache!! zu nehmen für 1848. „Dann ging es weiter,
lauter Widersprüche, totale Unklarheit, unglaubliche Ausdrücke: ‚Jeder
Mensch ist ein Schweinehund! Nur durch ganz bestimmte Befeble wird er
gehalten und dirigiert‘.‘“ Da gerade von Generalen von 1848 die Rede war,
hätte sich diese Bemerkung also in erster Linie auf Generale im allgemeinen
bezogen. Der Kaiser wäre dann stundenlang allein mit verstörtem Ausdruck
umhergegangen. Dann hätte er, Eulenburg, sich ihm angeschlossen, ihm
von allerhand harmlosen Dingen gesprochen, um ihn zu beruhigen. „Aber
er hörte mir ganz zerstreut zu. Dann fing er plötzlich an — ja, ich will es
einfach sagen, wie es war— furchtbar zulügen. Es handelte sich um alte
Privatdinge, die ihn betrafen. Er mußte wissen, daß ich genau orientiert
war, schien es aber vergessen zu haben. Ich hörte völlig schweigend zu.
Aber immer wollte kein Schluß kommen. Er machte mir — blaß, heftig
perorierend, unruhig um sich blickend und Lüge auf Lüge häufend — einen
so schrecklichen Eindruck! Nicht gesund — ist wohl die geringste Form
eines Urteils. Kessel erzählte mir, daß schon während der kurzen Zeit seines
Kommandos als Kommandierender General in Berlin S. M. zweimal bei
völlig geringfügigen Anlässen in offenen Telegrammen auf das Volk zu
schießen befohlen habe. Kessel sagt, ihm sei die Diskretion des Telegraphen-
personals geradezu bewundernswert erschienen. Da er nicht den Befehlen
gefolgt habe, erwartete er irgendeine ‚Äußerung‘ — aber es sei gar nichts
darauf erfolgt.“
Eulenburg schrieb weiter, der Kaiser stünde unter dem ihn erregenden
Eindruck seines völlig vergeblichen Liebeswerbens in England und in
Rußland. Er habe auch das unbestimmte Gefühl, nicht mehr die welt-
erstaunenden Coups wagen zu können, nach denen seine große Eitelkeit
verlange. Dazu komme das völlig sinnlos ungesunde Leben, das während der
Nordlandreise „an Bord dieses schwimmenden Schauspielhauses“ geführt
werde. Aus Rominten klagte Eulenburg in gewohnter Weise über die
Kaiserin: „Ihre Liebe für $. M. ist wie die Leidenschaft einer Köchin zu
ihrem Schatz, der im Begriff steht, abzubauen. Diese Art, sich zu oktroy-
ieren, ist nun allerdings nicht das Mittel, um sich fester zu setzen.“ Mit
seinem feinen Verstand fühlte Eulenburg schon damals durch, daß zwischen
dem Kaiser und seinem von ihm sehr verschiedenen ältesten Sohn sich
gewisse Gegensätze herausbildeten. Der Kaiser habe dem Kronprinzen
einen schr energischen Adjutanten beigegeben, da Seine Kaiserliche und
Königliche Hoheit eine gewisse Tendenz zeige, sich in moderner Richtung