630 LAMBSDORFF AUSGESCHALTET
der gegenwärtigen Streitfragen zwischen Japan und Rußland könne ich
den Japanern keinen Rat geben, wegen der mit jedem Rat verbundenen
schweren Verantwortung; aber hinsichtlich unserer eigenen. neutralen und
loyalen, von allen Verpflichtungen freien Haltung nähme ich keinen An-
stand, ihnen reinen Wein einzuschenken. Wir hatten nach meinem Dafür-
halten in der Tat keine Veranlassung, den sprungbereiten Japaner in seinem
Selbstgefühl und seiner Unternehmungslust zu erschüttern, denn ein Krieg
in Ostasien entfernte die immer latente Kriegsgefahr von uns in Europa.
Wir hatten ebensowenig Anlaß, die Japaner zu kränken oder mißtrauisch
zu machen. Und selbst wenn die Russen, was kaum wahrscheinlich war,
von dieser Unterredung Kenntnis erhalten sollten, erschien es mir, wie sehr
ich auch von der Nützlichkeit guter Beziehungen zwischen Deutschland
und Rußland durchdrungen war, nur wünschenswert, den zur Überhebung
neigenden Herren in St. Petersburg deutlich zu machen, daß ein näheres
Verhältnis zwischen Deutschland und Rußland auf Gegenseitigkeit gegrün-
det sein müsse. Am Schluß unseres Gesprächs sagte ich Herrn Inouye, daß
unser ferneres Verhalten von der Stellung der anderen Mächte zu uns ab-
hängen würde. Diese elastische Bemerkung wahrte uns die Freiheit unserer
späteren Entschließungen.
Der Kaiser konnte es natürlich kaum erwarten, seinen Freund und Vetter
Lambsdorff Nicky wiederzusehen. Letzterer erschien denn auch, wiederholt eingeladen,
und der mit seinem Schwager, dem Großherzog von Hessen, für ein paar Stunden in
Konflikt mit Wyjesbaden, wo der Kaiser auf ihn wartete. Die Begegnung war kurz und
Japan störte deshalb nicht allzusehr die Bequemlichkeit und Laune des russischen
Autokraten. Am 4. November wurde der Besuch vom Kaiser in Wolfs-
garten erwidert. Am Nachmittag sollte ich mit dem russischen Minister des
Äußern im Schlosse in Darmstadt zusammentreffen. Für den Abend war
ein Diner mit dem russischen Kaiserpaar im Schloß Wolfsgarten angesetzt.
Bevor ich nach Darmstadt fuhr, erschien der russische Botschafter Graf
Osten-Sacken bei mir, um mir nicht ohne Verlegenheit zu sagen, daß Graf
Lambsdorff sich mir gegenüber in einer prekären Lage befände. Kaiser
Nikolaus habe alles, was sich auf die Beziehungen zwischen Rußland und
Japan und insbesondere auf die ostasiatischen Angelegenheiten beziehe,
einem besonderen Komitee unterstellt, dessen Vorsitz er Allerhöchstselbst
führe. Damit sei Lambsdorff tatsächlich von der Behandlung der ostasiati-
schen Fragen und speziell aller Differenzen zwischen Rußland und Japan
ausgeschaltet. Es sei eine Kaltstellung in optima forma. Der russische Bot-
schafter verhehlte mir nicht die Besorgnis, die ihm diese Wendung einflöße.
Der Ukas über die Einsetzung eines besonderen Komitees für die ost-
asiatischen Streitigkeiten sei auf Intrigen von Großfürsten und Höflingen
zurückzuführen, die in Korea Steinkohlenlager und Wälder auszubeuten