42 WILHELM II. UND DIE VERBLENDETEN
einem gewissen Grad für ihn auf mildernde Umstände anträgt. Die Reden
und das Gebahren des Prinzen Ludwig in dieser Richtung sind sehr typisch.
Es tritt das Solidaritätsgefühl der Prinzen in Erscheinung und die Erkennt-
nis, daß, fällt Berlin, die monarchischen Kartenhäuser hier in München, in
Stuttgart und Greiz nachstürzen. Dabei ist man hier über die Gemüts-
disposition des Kaisers völlig orientiert. Ich glaube kaum, daß letztere so
ernst ist, wie die Pessimisten annehmen, daß aber Gefahr im Verzuge, ist
mein Eindruck, auch nach meinem letzten Ersehen.““ Monts hatte bei einem
Besuch in Berlin den Kaiser unter vier Augen liebenswürdig und soweit
verständig gefunden. „Dann kamen mehrere Leute. Der Kaiserrenommierte,
wurde unklar und unangenehm, auch traten fixe Ideen zutage, Verfol-
gungsideen betreffend Bismarck, die Überhöhung des alten Wilhelm usw.
Was man auch sagen mag, hier liegt der Hund begraben. Ich habe, Sie
glauben nicht, was man hier hört, und auch in Berlin, aus Andeutungen von
Ärzten entnommen, daß der Kaiser noch zu kurieren sei, mit jedem Tage
aber die Möglichkeit geringer würde. Phili darf man über diese Dinge nicht
sprechen, er ist als Gefühlsmensch für solche Reflexionen nicht zu haben,
glaubt außerdem trotz aller Evidenz, wie ich meine, ehrlich, an allen Ge-
rüchten sei kein wahres Wort. Meine einzige Hoffnung ist nur der Kaiser
selbst. Ob er nicht doch gelegentlich einen Einblick gewinnt, fühlt wie es
mit ihm steht und wohin er sein Vaterland gesteuert hat. Wäre er von
ehrlichen Leuten umgeben, müßte bei der hohen Intelligenz von S. M., bei
den vielen ruhigen und klaren Momenten, schon längst der psychologische
Augenblick da sein. Es scheinen aber zu viel Ehrgeiz, zu viele Verblendete
die guten Regungen schnell wieder zu ersticken in der Lage zu sein. Das
Jagen von Ort zu Ort, von Fest zu Fest, der Verkehr mit allen und jedem
läßt keine innere Prüfung zu. Meine Überzeugung trotz alledem ginge dahin,
daß ein Jahr ruhigen Landlebens, wobei nur die nötigsten Repräsentations-
pflichten erfüllt würden, das Gleichgewicht wieder herstellen könnte. Ent-
schließt sich aber S. M. hierzu nicht, so sche ich eine unvorbereitete Gewalt-
politik voraus, Staatsstreiche, die ohne Zweck und Ziel auf ihre Urheber
zurückfallen und mit dem Ende Kaiser Wilhelms II. schließen werden. Da-
zwischen wird freilich unendlich viel nach innen und außen verloren gehen.
Ein Schwimmen gegen den Strom brachte selbst Caprivi und sein Adjutant
Ebmeyer a la longue nicht zu Wege. Die Nation, kinderleicht zu führen wie
kein zweites Volk der Welt, läßt sich nicht an das Gängelband des abso
luten Herrschers, der Junker und Pfaffen mehr nehmen. Der Deutsche ver-
langt ruhigen Genuß der bürgerlichen Freiheit, wobei er gern eine starke
monarchische Gewalt über sich weiß. Die Lage nach innen wäre ja so
günstig. Der Sozialdemokrat wächst sich zum radikalen Philister aus, seine
Führer sind nicht minder uneins wie die Koryphäen des Zentrums, die