DER DRAHT NACH ST. PETERSBURG 45
Krieges nur durch einen in St. Petersburg eingetretenen Thronwechsel im
kritischsten Moment des Krieges gerettet worden. Unsere Erhebung und
Erlösung nach Jena war dadurch ermöglicht worden, daß Friedrich Wil-
helm III., die Königin Luise und Fürst Hardenberg sich auch durch das
traurige Schauspiel von Tilsit nicht verleiten ließen, den Draht abzureißen,
der Potsdam mit St. Petersburg verband. In den letzten Regierungsjahren
Friedrich Wilhelms III. und namentlich unter Friedrich Wilhelm IV., dessen
nervöser Schwäche die rohe Kraft des Kaisers Nikolaus, dessen irrlichte-
lierender Phantasie die geradlinige Brutalität des damaligen Zaren zu sehr
imponierte, waren wir in eine oft nicht würdige Abhängigkeit von unserem
östlichen Nachbarn geraten. Aber Bismarck hatte 1864 die Befreiung der
Elbherzogtümer, 1866 den Ausschluß Österreichs aus Deutschland und die
preußische Hegemonie in Norddeutschland, 1870 bis 1871 Kaiser und Reich
nur erreichen können, weil er mit genialer Gleichgültigkeit für Gefühls-
momente sich seit seinem Amtsantritt, namentlich durch seine richtige
Behandlung der polnischen Frage, die russische Rückendeckung gesichert
hatte. Er hatte auf dem Gebiet der deutsch-russischen Beziehungen einmal,
nur einmal einen großen Fehler begangen. Wer ist unfehlbar? Wem gelingt
alles? Auf dem Berliner Kongreß hatte Bismarck 1878 den russischen Kanz-
ler Gortschakow, dessen Eitelkeit und dessen affektiertes Parisertum ihm
zuwider geworden waren und der ihn 1875 geärgert hatte, seinerseitsschlecht
behandelt, was diesen wiederum dazu trieb, Kaiser Alexander II. und die
„Intelligenz“ in Rußland gegen Deutschland aufzuhetzen. Bismarck hatte
1879 unter dem irrigen Eindruck, daß der Zar in Alexandrowo versucht
habe, Kaiser Wilhelm gegen seinen großen Minister aufzustacheln, die
Schwenkung zur Allianz mit Österreich ab irato und deshalb zu hastig und
heftig vollzogen. Aber der Fürst hatte, nachdem die Fehler begangen
worden waren, alle Ressourcen seines erfindungsreichen und elastischen
Verstandes in Bewegung gesetzt, um das gestörte Verhältnis zu Rußland
zu sanieren. Er hatte hierbei volles Verständnis und volle Unterstützung
bei seinem alten Herrn gefunden, der noch auf dem Sterbebette dem Enkel
und Nachfolger zugeflüstert hatte: „Mit Rußland stelle dich nur gut,
davon haben wir viel Nutzen gehabt.“ Aus diesen Worten sprach nicht nur
die Erfahrung langer Jahrzehnte, es sprach aus ihnen die ganze preußische
Geschichte.
Trotzdem hatte sich Kaiser Wilhelm II. durch Caprivi, Marschall
und (last not least) Holstein verführen lassen, den Rückversicherungs-
vertrag mit Rußland zu kündigen, obwohl er nach der Entlassung von
Bismarck dem russischen Botschafter Schuwalow persönlich erklärt hatte,
der Vertrag werde von uns aufrechterhalten werden. Die Kündigung war
in verletzender und ungeschickter Weise erfolgt. Sie hatte, wie dies von
Die
Kündigung
des Rück-
versicherungs-
vertrages