Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Erster Band. Vom Staatsseketariat bis zur Marokko-Krise. (1)

50 NERVÖSER KOLLAPS DES KAISERS 
Kredit und Volkstümlichkeit, das eine lange Reihe preußischer Könige 
und insbesondere Wilhelm I. dem jetzt regierenden jungen Herrscher 
hinterlassen hatte, in absehbarer Zeit vergeudet sein würde. In konserva- 
tiven Kreisen war die Brandenburger Rede am schärfsten kritisiert worden. 
Der mehr als achtzigjährige Generaladjutant Graf Karl von der Goltz, der ein 
halbes Jahrhundert in der Umgebung Wilhelms I. geweilt hatte, faßte mir 
gegenüber sein Urteil in die Worte zusammen: „Der Kaiser will seinen 
Herrn Großvater feiern, ihn recht hoch stellen. Wenn der alte Herr aus dem 
Grabe auferstünde und die Brandenburger Rede läse, würde er mit seinem 
hausbackenen, aber gesunden Menschenverstand und mit erhobenem Zeige- 
finger zu seinem Enkel sagen: ‚Aber Wilhelm, du bist wohl verdreht !‘“ 
Die Freunde des regierenden Kaisers, manche aus Überzeugung und in 
guter Absicht, andere nur aus Selbstsucht und mit jenem Hang zur 
Schmeichelei, der, solange die Welt steht, an allen Höfen blüht und sich, 
nur in plumperer Form, auch in der Umgebung der republikanischen 
Machthaber seit 1918 bemerkbar machen dürfte, erklärten die Rede Seiner 
Majestät aus dem Schmerz, den der Kaiser darüber empfände, daß sein 
Großvater von seinem ersten Ratgeber gar zu schr verdunkelt würde. In 
berechtigter Notwehr gegen die Unterschätzung des von ihm so hoch ver- 
ehrten und heiß geliebten Großvaters habe der Kaiser dann mit einigen 
Wendungen vielleicht über das Ziel hinausgeschossen. Wirklichen Nutzen 
hatten von der Rede nur die Sozialdemokratie und bis zu einem gewissen 
Grade der Freisinn, die sich auch die Gelegenheit nicht entgehen ließen, 
aus dieser neuen und gar zu überspannten Rede wacker Kapital zu schlagen. 
Der Kaiser selbst war durch den Mißerfolg seiner Rede, der ihm nicht 
verborgen bleiben konnte, so enttäuscht gewesen, daß er, zum erstenmal 
seit seinem Regierungsantritt, einen nervösen Kollaps erlitt und zu seiner 
Erholung auf einige Tage nach dem Jagdschloß Hubertusstock fuhr. Er 
hatte sich gerade von dieser „forschen“ Rede einen starken Erfolg ver- 
sprochen. Was unter Wilhelm I. wie gegenüber dessen Sohn nie der Fall 
gewesen war: der Spott bemächtigte sich der kaiserlichen Rede. Ganz 
Berlin lachte über die Erzählung, nach der in der Friedrichstraße ein 
Ungar, der wie manche seiner Landsleute im Deutschen die Artikel „‚der‘“ 
und „das“ zu verwechseln geneigt war, an einen Polizisten die Frage ge- 
richtet haben sollte: „Wo ist der Brandenburger Tor?“ Der biedere 
Schutzmann hatte angeblich zornig erwidert: „Wenn Sie noch einmal über 
Seine Majestät ulken, werden Sie eingespunnen! Verstanden ?!“ Die Ab- 
lagerungsstätte für solche Medisance und Persiflage war namentlich die 
Hardensche „Zukunft“ geworden, die unter Wilhelm I. nicht hätte auf- 
kommen, geschweige denn einen großen Leserkreis, noch dazu in der 
Gesellschaft, finden können.
	        
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